Eine Oper? Ein Comic? Ein Ereignis!

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (19.09.2011)

Nos, 17.09.2011, Zürich

Schostakowitschs Oper «Die Nase» war 1930 ein Wurf. Die erste Zürcher Aufführung ist es ebenfalls.

Wenn in einem Comic ein Korken knallt, ein Kinnhaken sitzt, ein Plan scheitert, dann heisst es: «plopp», «zack», «seufz». Wenn bei Dmitri Schostakowitsch die Nase des Kollegienassessors Kowaljow auf den Tisch fällt, dann macht es «poc» im Orchester. Und wenn Kowaljow das verlorene Teil mit Spucke wieder zu befestigen versucht, dann tut er das mit lautem «ftu!».

Peter Steins Idee, «Die Nase» als Comic auf die Bühne des Zürcher Opernhauses zu bringen, ist damit nicht allzu weit hergeholt. Genial ist sie trotzdem, weil sie nicht nur den anschaulichen Geräuschen in dieser viel zu selten gespielten Partitur gerecht wird, sondern dem Werk überhaupt: Schliesslich hat Gogols Erzählung über diese Nase, die aus Kowaljows Gesicht verschwindet und plötzlich als Staatsrat unterwegs ist, nichts zu tun mit den üblichen Operngeschichten und Operngefühlen. Auch die Form, die Schostakowitsch diesem Stoff gegeben hat - die schnellen Schnitte, die Stauchungen und Streckungen der Zeit, der Stilmix -, ist eher comicartig als melodramatisch.

All das macht Stein klar. Immer wieder öffnen sich neue Nischen wie Panels in der Fassade, ein Bild schiebt das andere weg, Laufbänder verändern die Geschwindigkeiten, Leuchtschriften liefern Schlagwörter zum Geschehen. Und dabei gibt es so viele skurrile, liebevolle und bösartige Details zu sehen, dass man schon nach den ersten Minuten nicht nur Stein, sondern auch Ferdinand Wögerbauer (Bühne) und Anna Maria Heinreich (Kostüme) einen Orden verleihen möchte.

Altmeister Nummer vier

Der mittlerweile 73-jährige Peter Stein ist nach Harry Kupfer, Peter Konwitschny und Achim Freyer der vierte Regie-Altmeister, der innerhalb weniger Monate sein Debüt am Zürcher Opernhaus gibt - Alexander Pereira scheint zum Abschluss seiner Ära einen gewissen Nachholbedarf gespürt zu haben. Stein selbst ironisiert in einem Interview im Programmheft, dass die Anfrage kam, als er vielerorts längst als «antiker Schrotthaufen» gehandelt wurde (zuletzt bei den Salzburger Festspielen, wo das Wort Schrott in Zusammenhang mit seinem Verdi-«Macbeth» nur der Höflichkeit halber nicht in den internationalen Feuilletons auftauchte).

Mit dieser «Nase» nun hat er es wieder einmal allen gezeigt. Altmeisterlich ist hier höchstens das Handwerk, dem man die Erfahrung mit Opern, Massenszenen und russischen Stoffen ansieht. Ansonsten hat sich Stein vom jüngsten Mitglied des Produktionsteams anstecken lassen: von Schostakowitsch selbst, der das Stück mit 22 Jahren geschrieben hat, als junger Wilder, der sich alles erlaubte, was damals gerade noch knapp erlaubt war. Sechzehn Aufführungen erlebte «Die Nase» in der ersten Serie 1930, danach war sie bis 1974 von den sowjetischen Bühnen verbannt.

Affront gegen die Tradition

Schostakowitschs Musik ist ungestüm und unverschämt, nicht nur im ersten grossen Schlagzeugsolo der Operngeschichte. Da sind auch all die Persiflagen - die Tänzchen und Choräle, die überkandidelte Sehnsuchts-Arie der jungen Nicht-Geliebten und das hinreissend verbogene Volkslied des Dieners. Oder es gibt den Polizisten, der mit seinem quäkenden Tenor als lächerlicher Vertreter der Staatsgewalt gezeigt wird (was Stein mit Stelzen in den Stiefeln zusätzlich betont). Und wenn Schostakowitsch seinen Protagonisten Kowaljow erst sprechen und dann lautstark gähnen lässt, bevor er ihm überhaupt einen Ton zu singen gibt, dann ist das ein gezielter Affront gegen die Tradition.

Dass das alles in dieser Zürcher Aufführung so wild und spöttisch und böse und verzweifelt klingt, ist dem Dirigenten zu verdanken: Ingo Metzmacher darf im Umgang mit Partituren des 20. Jahrhunderts schon mit 53 als Altmeister gelten - das Opern-Establishment sieht ihn gerade wegen seiner Vorliebe für diese Werke immer noch als Jungspund. Jedenfalls verfügt auch er über eine ideale Mischung aus Erfahrung und Frechheit, und vor allem hat er jenes «Theaterblut», das er bei Orchestermusikern so schätzt (TA vom 15. 9.). Wie er die Gesten zusammen mit dem grandiosen Opernorchester in den Raum schmeisst, wie er das grelle Treiben der Töne anheizt, um dann mit derselben Intensität in leise Melancholie zu wechseln - das ist atemberaubend, herzergreifend und damit das Gegenteil von dem, was wohl jene Premieren-Abonnenten gefürchtet haben, die ihre Plätze an diesem Samstagabend leer liessen.

Mit dieser «Nase» macht das Zürcher Opernhaus in Sachen Schostakowitsch gut, was es vor ein paar Jahren verbrochen hat mit dem fragwürdigen Entscheid, die «Lady Macbeth von Mzensk» in der abgemilderten Spätfassung der «Katerina Ismailowa» zu spielen. Und es zeigt wieder einmal, über welche Ressourcen es verfügt: Dutzende der rund siebzig Rollen konnten aus dem Ensemble besetzt werden - Eva Liebau, Cornelia Kallisch, Andreas Winkler, Tomasz Slawinski und viele weitere haben kurze, aber prägnante Auftritte. Dazu sorgen russische Gäste (inklusive des Chorleiters Lev Vernik, der Ernst Raffelsberger unterstützt hat) für sprachliche und stilistische Authentizität. Mit Ausnahme von Leonid Bomstein, der schon anderswo als Nase unterwegs war, geben sämtliche Sänger ihr Rollendebüt. Und der ganze Aufwand wurde betrieben für nur acht Aufführungen (denn eine Wiederaufnahme wird es unter Andreas Homoki kaum geben): Man müsste jammern über die Verschwendung, wenn es nicht so viel zu bejubeln gäbe in dieser Produktion.

Dazu gehört auch der Auftritt von Lauri Vasar, der den Kowaljow gibt. Es ist die einzige grosse Partie des Stücks, und Vasar gestaltet sie so schillernd und pointiert, als ob er sich seit Jahren mit dieser Figur beschäftigt hätte. Er ist ein Geck (gegenüber den Frauen), ein Ekel (gegenüber dem Barbier), ein Untertan (gegenüber seiner Nase), ein tief Unglücklicher (beim Griff an die Stelle, wo die Nase einmal sass). Er ist Opfer und Täter, Mensch und Karikatur - und stürzt nie ab bei diesem sängerischen und darstellerischen Hochseilakt.

Damit zeigt Vasar im Einzelnen, was fürs Ganze gilt: Die Balance stimmt. So spürbar Steins und Metzmachers Begeisterung für «Die Nase» ist, so genau haben sie das Stück analysiert. Und wenn sie lustvoll die Extreme zelebrieren, so zeigen sie doch immer auch, woher diese Extreme kommen - etwa mit der von Lia Tsokali hochmusikalisch choreografierten Polizei-Szene oder dem Zitat aus Chaplins «Modern Times».

Die Nase ist wieder da!

Auch Schostakowitschs Umgang mit dem Stoff wird auf der Bühne reflektiert - indem Stein die einzige Szene, die nicht von Gogol stammt, aus den Panels nimmt und als Totale zeigt. Alle möglichen Figuren steigen da in eine Kutsche und singen Sätze aus anderen Gogol-Texten; auch die Nase will einsteigen, löst aber eine Massenhysterie aus und wird so lange geprügelt, bis sie wieder ihr ursprüngliches Format hat (womit Schostakowitsch keinen Realismus herstellt, aber doch einen Bruch kittet).

Und noch ein zweites Mal wählt Stein die Totale - als Schlussbild in schönster Comictradition, wenn Kowaljow die Rückkehr seiner Nase feiert. Die Geräusche danach waren: «jubel», «klatsch-klatsch», «kreisch».

Schostakowitsch hat sich in dieser Oper als junger Wilder alles erlaubt, was damals gerade noch knapp erlaubt war.