Herbert Büttiker, Der Landbote (11.04.2006)
Die Inszenierung von Puccinis «Turandot» im Opernhaus ist ein grosser Wurf - bewegend, aber nicht ohne Widerhaken in der Deutung der Oper als Zusammenprall zweier Kulturen.
Die Prinzen, die sich um sie bewerben, verlieren der Reihe nach ihren Kopf, der Hof, das ganze Volk leidet an den starren Ritualen und sehnt sich nach Veränderung. Aber die Prinzessin Turandot stellt weiter ihre Rätsel, um sich die Freier vom Hals zu schaffen. Jetzt ist der Prinz von Persien auf dem Weg zum Schafott, und wieder bekommt das Volk statt ein Liebesfest Henkerspiele vorgesetzt: Dieses China ist ein Ort der Verdammnis – und wenn der Vorhang aufgeht im Zürcher Opernhaus, zeigt sich dieser im fahlen Licht als eine Szenerie von bestürzender Kälte. Graue, steile Wände begrenzen den Platz, eine trichterförmige Tribüne, die von tief unter dem Niveau des Bühnenbodens ansteigt, füllt sich langsam mit der grauen Masse der Menschen, und aus der Palastmauer im Hintergrund kommen aus knappen Öffnungen die Funktionäre in ihren bizarren Kostümen, mit denen sparsam Farbe aufblitzt, aber eher grosse Insekten als Menschen den Platz beherrschen.
Calaf, der unbekannte frische Bewerber um die Hand der Turandot, wird im magischen Lichtkegel gera dezu hineingeworfen in dieses unwirtliche Metropolis: Sonnenbrille, Lederjacke, Zigarette – ein Mann aus der Zivilisation. Timur, der blinde Vater, den er hier trifft, Liu, die Sklavin, die ihn begleitet – auch sie einfach: Menschen. Der Kontrast springt geradezu heraus, denn er ist auch komponiert: Liùs Hilferuf, das «Padre! Mio padre! ...» des Prinzen: spontane, biegsame Töne im Musikpanzer, mit dem Puccinis geniale Klangvision aus Pentatonik, Schlagwerk, Blech und spitzen Bläsern Turandots Reich einkleidet.
Erstarrte und neue Welt
Auf diesen Kontrast einer erstarrten und einer fortschrittlichen Kultur zielen Giancarlo del Monacos Regie und Peter Sykoras Ausstattung mit grosser Konsequenz und, man muss bewundernd sagen, kühner Zuspitzung: Während Turandot ihre Rätsel stellt, begleitet von formelhaften Bewegungen ihrer Hände, greift Calaf zum Notebook, um die Antwort zu finden. Das Ende der Parabel ist dann absehbar, aber eben doch szenisch auch wieder grandios auf den Punkt gebracht: Mit dem Kuss und Turandots erwachter Liebe weichen die eisigen Wände zur Seite und geben den Blick auf eine moderne Skyline frei: Calaf setzt sich mit seiner Prinzessin im roten Abendkleid zum Tête-à-Tête im mondänen Schanghai.
Die Ironie des Schlussbildes vermag nun freilich die Irritation, die sich nach und nach ob der szenischen Deutung eingestellt hat, nicht zu verscheuchen: Der Sieg der Moderne über eine exotisch hinterwäldlerische Kultur ist nicht ohne Zwiespalt. War es vielleicht für den Puccini der zwanziger Jahre, umgeben von den sich formierenden Massengesellschaften, nicht gerade umgekehrt? Das alte China als Bild der modernen Zivilisation, die der Erlösung zur Liebe bedarf, und ein Prinz, der aus der tatarischen Steppe kommt, aus der fernsten exotischen Ferne – ein Lohengrin, ein Künstler –, der sie zugleich mit dem Tenor-Wunder bringen soll?
Fragwürdig wird die Überblendung der Märchenhandlung mit der «Schwellen- und Entwicklungsproblematik» (Programmheft) im realen Fernost in dieser Inszenierung vor allem mit dem Charakter des modernen Protagonisten. Dieser Calaf träumt mehr von der Macht als von der Liebe. Im Gegenzug steht mit Paoletta Marrocu, die für die hochdramatischen Passagen wenig Reserven besitzt, aber in der klar fokussierten Stimme Leucht- und Durchsetzungskraft findet, eine recht fragile Turandot auf der Bühne, immer wieder auch bezaubernd durch ihre Ausstrahlung mädchenhafter Anmut, die weniger für die Grausamkeit als für den eigenen Glanz der alten Hochkultur steht. Und da irritiert nun José Cura in seiner Darstellung unverblümter westlicher Arroganz, die er cool ausspielt, unzimperlich auch im Einsatz stimmlicher Potenz, bei der er sich nonchalant um belcantistische Ideale foutiert, auch verquollene Mittellage und röhrende Höhe durchaus in Kauf nimmt: ein wenig sympathischer Held angesichts des bombastischen Finales – und einer Inszenierung, die sich mit diesem Finale so heiter arrangiert und damit den tenoralen Draufgänger absolviert.
Imponierende Substanz
Natürlich spielt die Problematik von Puccinis unvollendet hinterlassener Oper mit hinein: Der Tod Liùs und Timurs Lamento haben in ihrer Ausdehnung ja immer etwas von einem ahnungsvollen Hinauzögern dessen, was dann Schwierigkeiten bereiten wird: Elena Mosuç mit grosser Spannkraft für das grosse Appassionato der Arie und Pavel Daniluk mit innigem Ton gaben der Szene die ergreifende Dichte, mit der sie zum Höhepunkt der Oper wird. Unvergesslich inszeniert: Liùs Tod mit dem Sprung in die Tiefe, in die Timur, geführt von Calaf, dann hinabsteigt.
Nicht nur in Szenen wie dieser lässt die Neuproduktion die gemachten Einwände vergessen. Musikalische Qualitäten begeistern noch und noch: Orchester und Chöre zeigen sich in Hochform, in den insgesamt breiten, aber flüssigen Tempi und der ausladenden Dynamik, die Alan Gilberts souveränes Dirigat vorgibt, ist Klangsubstanz gefordert, die der Zürcher Opernapparat imponierend und scheinbar unerschöpflich herzugeben vermag. Zu besonderen musikalischen Glanzstücken des Abends gedeihen aber gerade auch die Szenen virtuos lockerer Musikantik im Zusammenspiel des Orchesters mit dem hervorragenden Masken-Trio Gabriel Bermudez, Andreas Winkler und Bouslaw Bidzinski. Ein fesselnder Abend also in mancher Hinsicht.