Derek Weber, Salzburger Nachrichten (19.09.2011)
Opernfest. Peter Stein führte erstmals an der Züricher Oper Regie: Schostakowitschs „Die Nase“ mit Dirigent Ingo Metzmacher.
Verschwörung? Desinteresse derer, die sich in Zürich teure Opernkarten leisten können? Bis zur zehnten Reihe klaffen große Lücken bei der Premiere von „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch. Doch statistisch war die Aufführung zu mehr als 90 Prozent verkauft. Reiche machen halt gern im weniger heißen September Urlaub – und lassen ihre Karten verfallen.
Für die, die da waren, war’s ein kleines Opernfest: Peter Stein gab sein spätes Hausregiedebüt in Zürich. Am Pult stand Ingo Metzmacher. Sänger und Chor waren mit spürbarer Begeisterung dabei, Das Orchester ließ bei Schostakowitschs wilder, frecher und experimenteller Partitur, die alles mischt, was mischbar ist, die Funken sprühen.
Die Musik ist „eckiger“ als ein paar Jahre später bei der „Lady Macbeth von Mzensk“, zum Teil kammermusikalischer im Zuschnitt. Sie atmet noch den Geist der 1920er-Jahre, die in der Sowjetunion mindestens so wild, experimentell und offen waren wie im Westen. Allerdings: Die dunklen Wolken der Zensur brauten sich im Jänner 1930, als die Oper in Leningrad uraufgeführt wurde, schon zusammen. Es war damals jedoch noch nicht die Kulturbürokratie, die einen Boykott des Werks anstrebte, sondern die „Assoziation Proletarischer Musiker“. Sie forderte „verständliche“, einfach und einigermaßen wohlklingende Musik.
Das freilich bot der 23-jährige Schostakowitsch nicht an. Da ächzt und stöhnt es im Blech. Es überschlagen sich die Trompeten in wahnsinnigen Eskapaden und sogar ein Balalaikaspieler darf – welch eine Beleidigung für die hehre Opernkunst – sein Solo spielen. Dem Leningrader Publikum gefiel es. Die Vorstellungen wurden damals gestürmt. Die kommunistischen Funktionäre rümpften die Nase, zumal das Stück mit seinen kurzen, grotesken Szenen der russischen Tradition ins Gesicht schlug.
Vorlage für das Libretto war eine Erzählung Nikolai Gogol: Ein Mann von Reputation wacht eines Morgens auf und bemerkt: Die Nase ist weg. Wo sie prangte, befindet sich eine Stelle „glatt wie Pfannkuchen“, wie es im Libretto heißt. Sie taucht in gebackenem Brot auf, spaziert überlebensgroß durch die Straßen und Parks von Petersburg, verursacht Menschenaufläufe und wird schließlich so lang geprügelt, bis sie wieder so klein ist wie zuvor. Aber der Versuch des Kollegienassessors Kowaljow, sie wieder an Ort und Stelle zu befestigen, scheitert. Irgendwann ist sie aber wieder da und Herr K. kann als Mitglied der anständigen Gesellschaft sein kleines Leben weiterleben.
Dass es hier auch um Konformismus geht, wird in Peter Steins Regie nicht ganz deutlich. Aber man spürt, dass ihm die Regiearbeit großen Spaß gemacht hat und er die Vorführung des Absurden und Deftigen und Aberwitzigen (samt der sich dumm durch das Stück prügelnden Polizei und der bloßgestellten prahlerischen Obrigkeit) genießt. Und man hört, dass der Stein’sche und Metzmacher’sche Funke auf die Sänger übergesprungen ist.
Sie singen sich durch extreme Stimmlagen; das ganze Ensemble ist gefordert und der estnische Bariton Lauri Vasar darf in der Hauptrolle des Platon Kusmitsch Kowaljow glänzen. Das Bühnenbild (Ferdinand Wögerbauer) nimmt Anleihen beim russischen Konstruktivismus, die Kostüme (Anna Maria Heinreich) wandern durch altrussische Zeiten und Lia Tsolakis Choreografie steuert Figuranten und Choristen durch das kunstvoll ausgeführte Bewegungschaos.
Um das alles genießen zu können, sollte man freilich sowohl Gogol als auch die sowjetischen Zwanzigerjahre kennen. „Die Nase“, hat Schostakowitsch zur Zeit der Entstehung seiner Oper gesagt, „das ist eine schreckliche Geschichte, keine komische.“ Er fügte hinzu: „Hätte Gogol in unserer Zeit gelebt, er hätte noch viel seltsamere Dinge gesehen. Heute spazieren so viele Nasen herum, dass man sich nur wundern kann.“ Das gilt ja auch für unser Heute, in dem man sich goldene Nasen verdienen kann, die dann auf den Finanzmärkten ihr eigenes Leben zu leben beginnen.