In Kältekammern

Dennis Roth, klassik.com (19.09.2011)

Wozzeck, 17.09.2011, Basel

Mit der Kühle und handwerklichen Perfektion eines Laborexperiments ging dieser 'Wozzeck' über die karg eingerichtete Bühne des Basler Theaters. Im Publikum blieben einige Sitze frei; man erlebte eine szenisch befriedigende, musikalisch aber schlichtweg überwältigende Deutung dieses singulären, 1925 erstmals aufgeführten Werks.

"Tut Er noch alles wie sonst? Rasiert seinen Hauptmann? Fängt fleißig Molche? Isst seine Bohnen?" Wozzeck bejaht; der Soldat, ein armer Wicht, muss dem Doktor für Menschenversuche herhalten. Wahnvorstellungen plagen ihn, aber handfest ist: Seine Marie geht fremd. Der Mensch ist ein Abgrund, heißt es in Georg Büchners Fragment gebliebenem Drama, das Alban Berg zur ersten abendfüllenden Oper vertonte, die nicht mehr der Tonalität verpflichtet ist. Der Mensch ist hier auch Opfer seiner Mitmenschen. Wozzecks Aufbegehren lässt ihn nur noch hilfloser erscheinen.

Elmar Goerdens Inszenierung bewegt sich vage, oft genug aber geschickt zwischen naturalistischer Sozialkritik und symbolhafter Überhöhung und verortet das Geschehen mit schmucklos-grauen Kostümen (Lydia Kirchleitner) in der Gegenwart. Das Militärische kommt nur andeutungsweise ins Spiel, etwa durch den Soldatenhelm, den der von Laurin Egli gespielte Sohn von Wozzeck und Marie trägt – eine nahezu stumme, von der Regie auch mittels Projektionen aufgewertete Rolle, die hier als Indikator der menschlichen Wärme dient. Die Szenenübergänge sind fließend und von bezwingender Logik (Bühnenbild: Silvia Merlo und Ulf Stengl). Offene, leere Räume mit weißen Wänden, in der Mitte eine Stahltreppe, die über die beiden Etagen hinausweist (doch weiter aufwärts wird keiner gelangen). Ist das noch ein Erdgeschoss, oder schon die Unterwelt? Die Bühne bleibt, wie sie ist, die Figuren sind in die Räume eingefasst: Die Verhältnisse sind nicht zu ändern.

Aus dem Ensemble ragen zwei Darstellungen heraus. Thomas J. Mayers Wozzeck ist die geschundene Kreatur, das auch, vor allem aber ein verquerer Gottsucher, rastlos ins Metaphysische drängend, im Irrsinn endend. Mayers Stimm- und Sprachbehandlung ist vorbildlich, sein klangschöner Bariton allzeit präsent, sein Spiel vielschichtig und ergreifend. Marie, die ihn mit dem Tambourmajor betrügt (nicht nur physisch, sondern auch gesanglich grobschlächtig: Stefan Vinke), ist in der Verkörperung durch die Bayreuth-erfahrene Sopranistin Edith Haller nicht weniger als ein Ereignis. Sinnlich, selbstbewusst und glamourös, ist sie mehr verhinderte Diva als Elendsweib. Klar, dass sie den Major erobert, nicht umgekehrt, wie es im Libretto steht. Ihr Gesang ist souverän geführt und stark in der Höhe.

Andrew Murphys solidem Doktor hingegen fehlt es an Buffo-Abgründigkeit, im Größenwahn bleibt er blass. Seine Patienten, die träge in den Räumen herumstehen, bleiben Dekor: Frauen in Unterwäsche, eine Schwangere, ein verwundeter Junge. Den überdrehten Sprechgesang des Hauptmanns – die gebundene, melodramatische Rede überwiegt den Gesang – gestaltet Karl-Heinz Brandt treffend exaltiert. Der Gesang von Rita Ahonen (Margret) könnte präsenter und geschmeidiger sein. Rolf Romei gibt einen virilen Andres, so beim Jägerlied im ersten Akt, wenn er mit Wozzeck – nein, nicht Weiden schneidet, sondern im einzigen grün gehaltenen Zimmer den Boden wischt. Wozzeck klammert sich ans Geländer, blickt hinunter, sieht einen Schlund. Szenisch ebenso sinnfällig wird seine existenzielle Verlassenheit in der Wirtshausszene herausgestellt, wenn er dem Treiben zusieht, allein in einem Raum: Gegenüber drängen sich das konzise aufspielende Kammerorchester und der von Henryk Polus gut präparierte Chor. Stehblues, doch es prickelt nur bei Maries Tanz mit dem Major. Vor ihrer Ermordung sitzt sie mit Wozzeck am Rand einer vertrockneten Pflanze, den Sohn, überzeugender Einfall der Regie, in ihrer Mitte. Wozzeck ersticht sie. Das Bühnenbild stößt hier an Grenzen: Zu konkret ist es, nicht mehrdeutig genug.

Dann liegt ein Tuch auf der Toten, der Mörder hat Blut an den Händen. Die feiernde Gesellschaft wird auf die Wände projiziert, ein Schatten-, ein Totentanz. Wenn dann allerdings der Chor hinzukommt, jeder verwundert in weißen Plastiktüten wühlt und sich die Hand mit Blut besudelt, zeigt sich der leichte Hang der Regie zum Plakativen: Die Gesellschaft ist mitschuldig an Maries Tod. Wozzeck ertrinkt nicht, sondern schlitzt sich die Pulsadern auf und fällt blutverschmiert in die Badewanne. Zumindest am Ende Würde und Selbstbestimmung für diesen Grübler. In der letzten, kehlenzuschnürenden Szene reitet der Junge auf dem Narren (Noel Hernández) in die Bühnenmitte, umhängt mit dem Leichentuch. Und bleibt selbst dann noch ungerührt, als die Kinder ihm zurufen: "Dein' Mutter ist tot!" Der Narr grinst ins Publikum, Ende. "Still, alles still, als wäre die Welt tot."

Während die Inszenierung eine kühle Strenge ausstrahlt, dringt emotionale Gluthitze auf dem Orchestergraben. Das Sinfonieorchester Basel, von Dennis Russell Davies brillant geführt, lotet die Extreme aus zwischen schmetterlingshafter Leichtigkeit und apokalyptisch dröhnendem Lärm (die Posaunen in der zweiten Szene!). Es vereint romantisches Wuchern und Sehnen mit analytischer Tiefenschärfe – mustergültig. Das ist das Wunder dieser Partitur: Dass die ausgefeilteste Konstruktion eine Emotionalität von höchster dramatischer Stringenz heraufbeschwört. Plastisch arbeitet der intonatorisch makellose Klangkörper die Eigengesetzlichkeit von Bergs mit geradezu mathematischer Präzision gearbeiteter Musik heraus. In der 'Invention und Fuge über drei Themen' etwa nehmen Doktor und Hauptmann Wozzeck in die Zange, nicht nur auf der Bühne, sondern auch musikalisch: Eine Tripelfuge, dominiert von Wozzecks fulminanten Ausbrüchen, vom Orchester mit eminentem Gespür für kammermusikalische Transparenz ausgelotet. Der Farbenreichtum der Partitur kommt bestens zur Geltung. Das Anschwellen des Todestons h nach Maries Ermordung vom vierfachen Piano zum dreifachen Forte ist von schockierender Wucht. Während insbesondere Haller und Mayer gefeiert, die Regie vom Premierenpublikum mit zufriedenem, aber nicht euphorischem Applaus bedacht wurde, gab's für die Orchesterleistung zahlreiche Bravi – kein einziges zuviel.