Jenny Berg, Neue Zürcher Zeitung (20.09.2011)
Die Schwierigkeit, Bühnenwerke aus ihrem Entstehungskontext zu lösen und in die Gegenwart zu versetzen, liegt meist weniger in der Transformation als in der Frage: Was ist die Gegenwart? – Das Heute, in dem Regisseur Elmar Goerden Alban Bergs Oper «Wozzeck» am Theater Basel spielen lässt, ist von irritierender Leere und Haltlosigkeit. Die Bühne (Silvia Merlo und Ulf Stengler) ist ein zum Zuschauerraum hin geöffnetes Gebäude, gleicht modernen Einheitsbauten mit komplett verglasten Fronten. Keine persönlichen Gegenstände beleben die kahlen weissen Wände, und man fragt sich, ob hier schon jemand eingezogen ist – oder ob man heute eben so wohnt. Keiner der Räume ist Bewohnern oder Szenen zugeordnet, beliebig wird bald hier, bald da geliebt, gestritten, gefoltert, getötet. Nur: Warum?
Der Wahnsinn im Täter
Goerden vermeidet es, eindeutige Beziehungsgefüge zu inszenieren. Die erste Szene etwa, in der Wozzeck den Hauptmann rasiert, ihm also in vieldeutiger Weise Untertan ist, zeigt stattdessen Interaktion auf Augenhöhe. Beide, der schmächtige Hauptmann (herrlich zynisch: Karl-Heinz Brandt), der stattliche Wozzeck (stets introvertiert: Thomas J. Mayer), laufen im Haus umher, reden aneinander vorbei. Auch die Szene beim Doktor (Andrew Murphy), der fragwürdige Experimente an Wozzeck unternimmt und genüsslich deren Auswirkungen auf Wozzecks Gemüt analysiert, wird relativiert: Nebenan stehen die Patienten Schlange, Wozzeck ist vielleicht gar kein Einzelfall. Auch die niedere soziale Stellung und Armut Wozzecks sind nicht erkennbar.
Doch was bleibt dann von der Dynamik des Stückes, die sich entfachen muss, um zum finalen Desaster, dem Mord an Marie, zu führen? Wenn dieses Heute zwar kalt ist, aber für die anderen offensichtlich ganz gut funktioniert? Es muss der Wahnsinn sein, der im Täter wohnt und ihn zwingt, seine geliebte Marie zu töten, damit kein anderer sie lieben kann. Woher dieser Wahnsinn kommt, ob von der emotionalen Armut seines Umfeldes, ob von der verordneten Hülsenfruchtdiät, das lässt die Inszenierung offen. Und so bleibt am Ende Maries und Wozzecks Sohn zurück, allein in einer Gesellschaft, die die Augen verschliesst vor den Dramen in ihr.
Musikalisch erzählt
Die Musik avanciert in diesem Setting zum eigentlichen Erzähler. Mit entschiedener dramaturgischer Präzision charakterisiert Alban Berg die Figuren, deutet an, reflektiert, spitzt zu, und die Interpretation durch das Sinfonieorchester Basel und seinen Chefdirigenten Dennis Russell Davies ist schlicht grossartig. Mit welchem Klangreichtum die überwiegend frei atonale Partitur ausgelegt wird, mit welcher Harmonie Sänger und Orchester gemeinsam atmen, ist beeindruckend. In den durchweg hervorragenden Leistungen der Sänger und Choristen sticht Edith Haller als Marie besonders hervor. Ihr tragender, strahlender Sopran gibt ihrer Rolle weit mehr Weiblichkeit, als es ihr Spiel und die grauen Alltagskostüme von Lydia Kirchleitner vermögen.