Das Wüten der Temperamente

Jenny Berg, Neue Zürcher Zeitung (22.10.2011)

Otello, 20.10.2011, Zürich

«Otello» von Giuseppe Verdi am Opernhaus Zürich

Die eidgenössischen Wahlen 2011 werfen ihre Schatten voraus, auch auf die Bühne des Opernhauses Zürich. Der britische Regisseur Graham Vick liess es sich nicht nehmen, die Wahlplakate einer gewissen polarisierenden Partei für seine Inszenierung von Giuseppe Verdis «Otello» zu adaptieren. Auch in Zypern, das Otello mit seiner venezianischen Flotte gerade erobert hat und nun besetzt hält, scheint man sich über religiöse Pluralität zu sorgen, scheint man Tiere je nach Farbigkeit anders zu behandeln. Eine nette Illustration sind diese Bilder, einen unmittelbaren Bezug zum Geschehen aber haben sie nicht.

Ohne Überraschung

So ist es mit vielem in dieser Zürcher Neuinszenierung von Verdis vorletzter Oper. Ohne Brüche, aber auch ohne Radikalität und Überraschungen plätschert das Bühnengeschehen über vier Akte hinweg, folgt hier mehr, dort weniger den Vorgaben des Librettos, präsentiert einige interessante Einfälle, ohne dem zwingenden Fortgang im Musikalischen einen solchen im Inszenatorischen zur Seite zu stellen. Die Bühne (Paul Brown) ähnelt in den äusseren beiden Akten einem dunklen Militär-Hangar, dazwischen stehen ausgebrannte Autos, Strassensperren und stilisierte Palmen für das besetzte Land auf der Bühne, und fein goldene Kanapees im Fernsehstudio greifen die Ästhetik jener Machthaber auf, über deren Ende dieser Tage berichtet wird. Die Kostüme (Paul Brown) sind in ortlos-modernem Militär- und Politiker-Tenue gehalten.

Die politische Dimension fungiert hier jedoch in erster Linie als Hintergrund. Die verschiedenen Kulturkreise der Protagonisten, die Shakespeare und Verdi als Motor der Handlung erdachten – Otello ein Schwarzer, alle anderen Weisse –, werden von Vick relativiert: In seiner Inszenierung sind alle weiss. Otello, der den Ehrenmord an seiner Gattin Desdemona begeht, weil sein Widersacher Jago in ihm grundlose Eifersucht sät, bekommt bei Vick keinen Aussenseiterbonus zugestanden – es ist allein Otellos Charakter, der die Tragödie auslöst.

Zu Beginn ist dieser Ansatz noch schlüssig, später aber weicht Vick stärker von der Vorlage ab, lässt Otello schlimme Dinge sagen, nicht aber tun, und mildert dessen Wildheit; trotz dieser Milderung scheint Desdemona ihren nahen Tod nicht nur zu ahnen, sondern sogar zu wissen; Vick lässt sie langsam in den Wahnsinn hinübergleiten – weshalb nicht Otello, sondern sie wahnsinnig wird, ist nicht plausibel.

Es ist eben eine besondere Schwierigkeit, auf der Bühne Personen schlüssig agieren zu lassen, deren Innerstes die Musik vollgültig, prägnant und bis in die kleinsten Regungen darstellt. Und wie grossartig Verdi dies komponiert hat, wurde in der hervorragenden Interpretation durch Daniele Gatti und das Orchester der Oper Zürich mehr als deutlich. Schlank und transparent war der Orchesterklang, lebendig, brodelnd jede musikalische Wendung auskostend, sich zu unglaublicher Schlagkraft verdichtend, in herrlich fahlem Piano endend. Kaum einmal überdeckte das Orchester die Sänger, vielmehr trug es sie und fand selbst bei den schwierigen Ensembles mit dem ausgezeichneten, von Jürg Hämmerli vorbereiteten Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu höchster Präzision. Auch die Besetzung der Sänger zeugt durchweg von erlesener Qualität, selbst die Nebenrollen, allesamt Rollendebüts – der schlanke Tenor Benjamin Bernheims (Rodrigo), der präsente Mezzosopran Judith Schmids (Emilia), der helle, aber durchdringende Tenor Stefan Pops (Cassio) –, fallen in keiner Weise ab.

Falschheit, Wärme und Glanz

Als erfahrener Otello kann José Cura seinen Tenor in der Tiefe wunderbar dunkel wüten lassen, ohne dass er in der Höhe an Strahlkraft verlöre. Der Rollendebütant Thomas Hampson zeigt einen bitterbösen Jago, der mit seinem unsagbar wandlungsfähigen Bariton gerade jene Falschheit Klang werden lässt, die diese Figur ausmacht. Und Fiorenza Cedolins, von der Regie etwas farblos und kühl gezeichnet, bringt mit ihrem schmelzenden Sopran umso mehr Wärme und Glanz in ihre Desdemona. Nicht nur, aber auch wegen ihrer einzigartigen Mezza Voce ist dieser Abend eine musikalische Sternstunde.