Tobias Gerosa, Basler Zeitung (24.10.2011)
Jurate Vansks Inszenierung von Dvoráks Märchenoper «Rusalka» am Theater Basel scheitert an ihrer Diesseitigkeit
«Die Menschen sind der Abschaum der Natur» – wir kommen nicht gut weg bei Hexe Jezibaba in Antonin Dvoráks Oper «Rusalka», die am Samstag im Theater Basel zur Premiere kam. Doch was heisst hier Hexe? Wo das Stück die Geschichte der Teichnixe Rusalka erzählt, die Mensch werden will, um die Liebe zu erleben, gibt es in Jurate Vansks Inszenierung die Naturwelt nur als Tapetenmotiv.
Zwei mauerartige Elemente bilden das je nach Beleuchtung bedrohliche oder Weite suggerierende Meer ab, doch die Strandstimmung bleibt reine Behauptung. «Die Menschen sind der Abschaum der Natur» heisst also einfach, dass die Menschen schlecht sind, während die Gegenwelt und damit alles Märchenhafte des «lyrischen Märchens» weggefallen ist. Das ist eine so klare wie problematische Grundsatzentscheidung, mit der sich die junge, bisher als Regieassistentin beschäftigte Regisseurin das Bein früh selber gestellt hat.
Mafiös aufgebrezelt
Zunächst funktioniert die Idee, Rusalkas Wunsch, Mensch zu werden, ganz praktisch und diesseitig als Vorstellung von einem besseren Leben zu verstehen. Die schäbige Strandlandschaft mit ihrem Betonturm und der offenen Telefonkabine könnte irgendwo im Ostblock stehen, und die jungen Frauen, die am Anfang hier abgeholt werden, sind offenbar in die Hände von Schleppern und Menschenhändlern gefallen. Nixen für die Puffs. Der strahlende Prinz ist nur ein romantischer Traum, auch wenn er so schön daherkommt wie in Rusalkas «Lied an den Mond».
Die Realität ist eine mafiös aufgebrezelte Gesellschaft von Geld und Gewalt (die Kostüme von Ingo Krügler sind von ausgesuchter Geschmacklosigkeit), gegen welche die Nixen mit den provokanten Mitteln der ukrainischen Frauenbewegung «Femen» ankämpfen: Kartontafeln, «Das ist kein Bordell», und Pornochic. Laurence Guillod, Solenn’ Lavanant-Linke und Rita Ahonen schlagen sich dabei als vokal einheitliches Ensemble szenisch überzeugend, man hat den Figuren im dritten Akt mehr Raum gegeben. Doch die Aufmüpfigkeit der Nixen dauert nur eine kurze, auch musikalisch mehr illustrative denn für die Handlung wichtige Szene lang, und so verpufft diese Aktualisierung rasch.
Mit der Figur des Wassermanns beginnen die grossen Probleme. Zunächst, weil ihn Liang Li zu dramatisch anlegt und die resignativ-warnende Melancholie dieser Vaterfigur durchaus eindrücklich orgelnd übertönt. Er bekommt von der Regie aber auch kaum Unterstützung in der Gestaltung der Figur. Einerseits ist er Vertrauter der Mädchen, scheint am Anfang aber auch zu den Schleppern zu gehören und hält im zweiten Akt als Teil der protzig-prolligen Festgemeinschaft des Prinzen seinen Monolog als Moralpredigt. Eine undurchsichtige Doppelrolle? Vielleicht, aber weder gibt die Musik das her, noch wird diese Idee szenisch sinnfällig. Ähnliche Fragen stellen sich mehrfach: Warum ist der Prinz offenbar ein Bohemien und was soll seine glitzernde Entourage? Warum taucht die fremde Fürstin, für die der Prinz Rusalka verlassen wird, schon am Anfang am Strand auf?
Verzichtbare Rolle
So geht es in dieser Inszenierung immer wieder: Man sieht oder ahnt die Idee, findet sie im Text, sie scheint interessant, die Assoziation schlüssig – aber weder in der praktischen Durchführung noch in der Wirkung oder im Gesamtzusammenhang funktioniert sie. Problematisch sind viele Scharnierstellen. Der Einsatz der Statisten wirkt zufällig, Gänge und die Körpersprache der Protagonisten angelernt, statt inhaltlich gefüllt, Auf- und Abtritte (gerade des Chores) kommen ohne szenische Motivation aus, ohne mit den vorangehenden oder folgenden Szenen verbunden zu sein.
Die Probleme der Übersetzung der Sphären werden bei Jezibaba unübersehbar. Wozu braucht Rusalka eine Hexe und ihren Zauber, wenn die Schlepper längst neben ihr stehen? Dass Khatuna Mikaberidze die Dämonie abgeht, passt schon fast dazu, verstärkt aber den Eindruck einer dramaturgisch verzichtbaren Rolle zusätzlich.
Auch Jezibaba taucht im zweiten Akt, als Rusalka Mensch wird und ihrem Prinzen folgt, beim Fest auf. Dafür wird der Coup de théâtre des Auftritts der fremden Fürstin, an deren offensiv-aggressive Erotik die kühle Rusalka den Prinzen verliert, im Chorgewusel verschenkt (vergewaltigt der Prinz Rusalka währenddessen sogar? Hinter Chor und Milchglasscheibe ist es nicht klar zu erkennen). Ursula Füri-Bernhard holt sich die Aufmerksamkeit mit herrischem Auftreten und angemessen schneidendem Sopran allerdings rasch zurück.
Es fehlt die Alternative
Es gelingen auch schöne Szenen, gerade in der Zeichnung des Verhältnisses von Prinz und Rusalka. Ihr gehört offensichtlich die Sympathie der Regisseurin, und Svetlana Ignatovich gestaltet sie als sehr menschliche, anrührende Figur. Wie sicher sie ihren klar zeichnenden und doch warmen Sopran führt und wie sie ihre Figur anlegt und entwickelt, hat Klasse. Für die grossen Aufschwünge fehlen der jungen Russin noch etwas Kraft und stimmliches Fundament, doch Dirigent Giuliano Betta kommt ihr umsichtig entgegen. Auch Maxim Aksenov (schon in «Pique Dame» und «Madama Butterfly» Ignatovichs idealer Partner) muss daher kaum je forcieren. Strahlend zieht er die Linien, wunderschön, wie er am Schluss leise werden kann – nur als Figur bleibt er blass.
In gelungenen Operninszenierungen verbinden sich Musik, Text und Szene zu einer Einheit, die mehr ergibt als die Summe der Teile. Das ist in dieser «Rusalka» nicht der Fall. Als müsste er musikalisch etwas kompensieren, entgeht Betta der Gefahr, leicht süssliches Pathos zu entfalten, nicht immer. Dabei ist er den Sängern ein aufmerksamer Begleiter, der orchestrale Motive klar herausarbeitet und mit Übersicht auch die grossen Bögen gestaltet. Das Sinfonieorchester Basel geniesst diese hörbar und mit vollem, warmem Klang.
Das Stück lässt den Prinzen am Schluss sterben. Mit einem Kuss erlöst er Rusalka und geht selber in den Tod, die Nixe kehrt zurück in den Teich. Doch wohin kann dieses Opfer jetzt noch führen? Das Stück funktioniert diesseitig und ohne alternative Sphäre nicht. Am offensichtlichsten inszeniert Vansk hier an Text und Musik nicht nur vorbei, sondern gegen sie. Das kann, wenn gut gemacht, zu produktiver Reibung führen wie etwa in Jossi Wielers Interpretation 2008 in Salzburg.
Jetzt allerdings fehlen die Alternativen. An die Stelle des Märchens, der (wenigstens scheinbar) heilen Naturwelt, tritt hier auf inhaltlicher wie handwerklicher Ebene: nichts. Und damit hängen Musik und Darsteller ohne Boden unter den Füssen auf der Bühne.