Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (24.10.2011)
Antonín Dvořáks «Rusalka» am Theater Basel
Auch eine Märchenoper kann unter die Haut gehen. Das Theater Basel hat Antonín Dvořáks und Jaroslav Kvapils (Libretto) Oper «Rusalka» in einer aktuellen, mit wenigen Abstrichen überzeugenden Lesart der jungen litauischen Regisseurin Jurate Vansk gezeigt. Gefesselt hat einen diese Aufführung nicht nur wegen ihrer Nähe zum realen Leben, sondern auch aus musikalischen Gründen. Vorab die junge Svetlana Ignatovich: Sie gestaltete die Rusalka, die den Schritt ins Leben risikobewusst wagt, mit grosser Ausdruckskraft und differenzierten stimmlichen Färbungen.
Nicht minder überzeugend war der helle Tenor von Maxim Aksenov als Prinz, waren Liang Li als eindringlicher Wassermann, Eung Kwang Lee als Hainý. Ursula Füri-Bernhard gab eine kräftig und raumfüllend intrigierende Fremde Fürstin, Khatuna Mikaberidze eine nuancierte Ježibaba. Ausgezeichnet Solenn' Lavanant-Linke als zweite Waldnymphe und Küchenjunge – ein geschickter Zug der Regie, diese Personalunion auch im Stück wirksam werden zu lassen. Und unter der musikalischen Gesamtleitung von Giuliano Betta erklang Dvořáks dunkelfarbige Musik mit dem Sinfonieorchester Basel in feinen Schattierungen und mit Gespür für die Dramatik.
Zwei soziale Schichten einer modernen multikulturellen Gesellschaft, zwei weit auseinanderliegende Kulturen treffen in der Inszenierung von Jurate Vansk aufeinander. Da sind einerseits die typischen reichen, konsumorientierten Abkömmlinge der New Economy, die im ersten Akt nachts auf der Jagd nach Frauen über einen Meeresstrand herfallen, als wäre es Miami Beach, und die im zweiten im Penthouse mit Blick auf Skyline und Meer eine rauschende, dekadente Party feiern; selbstverliebt, in entsprechender Kostümierung (Ingo Krügler). Und da ist eine Gruppe von Fremden, die an diesem Strand lebt: Die Wasserwesen und Sylphen Dvořáks sind zugewanderte Randständige, Roma vielleicht aus dem Osten, mit ihren eigenen Gebräuchen.
Sie wiederum strahlen eine starke Verbundenheit mit ihrer Tradition aus: Will Rusalka sie verlassen, wird sie zur Ausgestossenen. Es leuchtet ein, dass sie keine Sprache mehr hat, wenn sie zu den Yuppies geht. Andrerseits entstehen an den Berührungspunkten zwischen der moralisch korrumpierten Mehrheitsgesellschaft und der Kommune der Aussenseiter mit ihrem deutlichen Machtgefälle zwischen den Geschlechtern Prostitution, Zuhälterei, eine Mafia. Und kommt Rusalka zurück, wird sie ganz konkret stigmatisiert.
Eine typische moderne, globalisierte Gesellschaft also, in der das Gefälle zwischen Arm und Reich gross ist, die ohne Migration nicht funktionieren könnte und welche die daraus entstehenden Probleme nicht zu lösen gewillt ist. Die beiden Schichten leben indes nahe beieinander, was das in der Grundstruktur über alle drei Akte einheitliche Bühnenbild von Martina Segna unaufdringlich unterstreicht. Rusalka riskiert aus Liebe alles und verlässt ihren Clan. Doch auch der Prinz ist kein undifferenzierter oder unsympathischer Mensch. Es sind die hinterhältigen Machtspiele seiner upper class, welche ihn zeitweise von der Geliebten wegtreiben und die Katastrophe auslösen.
Dass das Märchen so gelesen werden kann, ist im keineswegs nur schwarz-weiss zeichnenden Libretto angelegt. Jurate Vansk brauchte nur den Symbolismus zu konkretisieren. Genauestens hat sie unsere westliche Gesellschaft beobachtet, hält uns den Spiegel vor. Sie schafft eine gegenwärtige Situation, in der der Text des Librettos funktioniert und die Figuren lebensnah werden. Da es um Theater geht, muss sie auch deutlich werden, mitunter überzeichnen. Das kann in Momente von etwas gar plakativer Wirkung kippen. Gerade bei Augenblicken des Verweilens, aber auch bei dramatischen Scharnierstellen – Dvořák pflegt sie mit einem verminderten Septakkord zu markieren – merkt man, dass sie noch etliche Erfahrungen mit Details der Personenführung in grossen Inszenierungen machen muss. Aber da war ganz klar ein grosses Regietalent am Werk, und die paar Buhs von einigen Märchenfreunden im Schlussapplaus waren unverdient.