Der Otello der Gegenwart ist Wüstenkrieger und Moslem

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (23.10.2011)

Otello, 20.10.2011, Zürich

Der Chefdirigent Daniele Gatti und ein Protagonistentrio sorgten am Zürcher Opernhaus mit Verdis «Otello» für einen musikalischen Höhenflug. Fragezeichen gab es bei der Premiere am Donnerstag nur beim Regie-Konzept von Graham Vick.

Bisher hat mich Daniele Gatti nie restlos überzeugt. Am Donnerstag hat sich das geändert und zwar vollkommen: Der «Otello» des Italieners war aus einem Guss, in der Dramatik schlüssig und mitreissend, in den Tempi niemals verschleppt, sondern ebenso überzeugend und konsequent, in der Dynamik wach und intelligent, die Extreme ausnutzend, aber nicht zelebrierend, selten ganz laut, aber dann richtig und sehr oft sehr leise, ohne dass sich die klangliche Delikatesse deswegen verflüchtigt hätte. Und vor allem war er extrem konzentriert und von einer nie nachlassenden Intensität, die nicht nur Gattis handwerklichem Können und seiner künstlerischen Linie das beste Zeugnis ausstellte, sondern auch das Zürcher Opernorchester auf einem Niveau zeigte, das nun wirklich keinen Vergleich zu scheuen braucht. Wie die Holzbläser den vierten Akt eröffneten, war ebenso atemberaubend schön und in jeder Hinsicht vollkommen wie die Streicherbegleitung des Ave Maria. Und auch sonst zeigte sich das Orchester in seinem technischen Können und seiner variantenreichen Klangkultur auf beneidenswertem Niveau.

Darstellerische Intensität

Dass aber der vierte Akt den nachhaltigsten Eindruck hinterliess, lag nicht nur an Gatti und dem Orchester, sondern auch an der Desdemona von Fiorenza Cedolins, die sich mit aussergewöhnlich wandlungsfähiger Stimme im Lauf der Partie zu einem wahren Höhenflug an intensiver Ausdrucksfähigkeit steigerte. José Cura in der Titelrolle irritierte – man muss schon sagen: wie üblich – mit einigen Manierismen, aber er hinterliess nicht den geringsten Zweifel, dass er diese gefürchtete Tenorpartie im Griff hat und sie auch mit seiner Bühnenpräsenz in jedem Moment mit darstellerischer Intensität zu füllen vermag. Die Szene mit Desdemona im zweiten Akt lebte fast nur von seinem Willen zur schauspielerischen Expressivität. Thomas Hampson sang den Jago zum ersten Mal und bewies erneut, wie sensibel und intelligent er seine Stimme in den Dienst zwiespältiger Charaktere stellen kann. Wie schon bei seinem Scarpia wirkten die klangliche Noblesse seines wandlungsfähigen Baritons und seine elegante Erscheinung in der Rolle des Bösewichts nur umso bedrohlicher, seine Intrige nur umso dämonischer, kalkulierter und grausamer.

Das hat Graham Vick sehr passend und schlüssig gesehen. Darüber hinaus hat er einen überaus starken Anfang inszeniert und den letzten Akt in der leer geräumten Bühne dank zwei starken Darstellern zu grossem Theater werden lassen. Sein Konzept war ambitioniert: Otello als Wüstenkrieger von heute ist nicht nur schwarz, sondern auch Moslem. Als doppelter Aussenseiter bekommt er nicht nur die begehrteste weisse Frau, sondern besiegt und vernichtet auch seine ehemaligen Glaubensbrüder. Vick zeichnet ihn als Heimatlosen, der in seiner neuen Welt nicht wirklich angekommen ist. Konsequent ist der Mord an Desdemona ein Ehrenmord, wie er in muslimischen Gesellschaften vorkommt: Kein Affekt, sondern vermeintliche Pflicht, nicht Folge von Eifersucht, sondern kalkulierter Plan. Dazu passen natürlich die Anspielungen an SVP-Minarett-Plakate und die berühmten schwarzen Schafe, Otellos Panzer hingegen ist als Ausstattungsgag nun doch ein wenig übertrieben.

Zu defensiv und unterwürfig

An die Grenzen stösst das Konzept bei Desdemona: Eine moderne Frau, als die sie gezeichnet ist, würde sich niemals so defensiv und unterwürfig verhalten. Was Fiorenza Cedolins nicht hindert, die Schlussszene bis in eine fast schon schizophrene Haltung hinein auszuspielen und zum Ereignis werden zu lassen. Und der Anfang, der ist wirklich sehenswert: Vick lässt das Schwarz von Otellos Hautfarbe wie eine Seuche über die Gesellschaft wuchern, zu Verdis ambitionierter Sturm- und Gewitterszene, von deren Dramatik Gatti natürlich nichts verschenkte.