N. N., Südkurier (22.10.2011)
Das Regietheater ist etwas in die Jahre gekommen: Graham Vick inszeniert Verdis „Otello“ in Zürich
Othello ist nicht gerade unser Herzensbruder. Dieser Befehlshaber der venezianischen Flotte ist eher eine Kampfmaschine. Und Gemahlin Desdemona zu meucheln, wäre natürlich selbst bei begründetster Eifersucht eine Schandtat. Aber kann man, wie der britische Regisseur Graham Vick dies in einem Interview tut, sagen, die Titelfigur in Giuseppe Verdis vorletzter Oper sei kein Opfer, sondern allein für seine Handlungen verantwortlich? Solches wertet als Erzbösewicht den Fähnrich Jago ab. Immerhin setzt dieser die Eifersuchtsintrige in Gang, um sich an Othello zu rächen, weil der Cassio anstelle von Jago zum Hauptmann befördert hat.
Regisseure sind ja nicht zu beneiden. Sie stehen seit längerem unter dem Berufszwang, fallweise durchaus legitime und erhellende Teildeutungs-Angebote, die in Repertoirewerken stecken, über Gebühr aufzublasen. Glücklicherweise geht dann meistens ein Teil der Luft raus, wenn das Stück wirklich auf der Bühne gegeben wird.
So auch in Zürich, wo in der Inszenierung von Vick mit einer Ausstattung von Paul Brown der Bariton Thomas Hampson den Jago als einen veritablen Bösewicht über die Rampe bringt. Wer Stimmfetischist ist, mag an Hampsons Bariton etwas herummäkeln. Ein Rollenporträt wie dieses aber, bei dem Jagos satanische Freude auch in vermeintlichen Details aufblitzt, verdient ungeteilte Bewunderung.
Der Tenor José Cura, der den wegen einer Bronchitis verhinderten Peter Seiffert bis einschließlich der fünften Folgevorstellung nach der Premiere ersetzt, wirft sich vokal und schauspielerisch mit derart rückhaltloser Hingabe in die Titelrolle, dass die Wucht von Jagos Ränken sich mit durchaus tragischer Wucht entlädt. Vick hat Cura ein Identitätsproblem à la Max Frisch aufgegeben. Wenn also Othello-Cura sich leitmovisch an einem während des ganzen Abends rechts vorne an der Rampe stehenbleibenden Tisch schwarze Schminke auf die Haut reibt, spielt er ein Bin-ich-Mohr-oder-nicht-Mohr?-Spiel.
Othello jubelt nämlich im ersten Akt: „Der Muselmanenhochmut liegt im Meer begraben!“, hat aber selbst eine Herkunft als Muselmane. Die Sopranistin Fiorenza Cedolins ist eine Desdemona, die, ob in Jeans oder im Brautkleid, viel von dem engelhaften Charakter von Othellos Gattin bei Verdi in den Abend hineinrettet und solches sängerisch mit einem edlen Stimmtimbre bei zartesten Nuancierungen tut. Brava! Auch das Volk und die Soldateska in jetztzeitlicher Militärkluft – den Chor hat Jürg Hämmerli gut vorbereitet – werden bei Vick zu einem sich mit schwarzem Dreck bekleckernden Mob. Man verbrennt auch Puppen oder guckt sich einen filmischen Zusammenschnitt kriegerischer Katastrophen und Weltbrände unserer Welt an.
Das Freudenfeuer im Opernlibretto von Arrigo Boito wird regielich damit scharf konterkariert. Gut so. Aber müssen jene Jubelworte von Otello in blutroten Lettern auf einer Leuchtschriftanzeige wiederholt vor unseren Augen durchwandern? Es ist eben zu oft eine Regie des Vorschlaghammers und der Klischees, die wir geboten bekommen. Und: Insgesamt vermag sich Vick nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit zu entscheiden zwischen einem Verfremdungstheater mit (auch weiteren) Plakaten, metaphorischen Signalen und zeitkritischen Verweisen und einem Gefühlstheater.
Am Dirigentenpult ist Daniele Gatti mit Feuer und Herzblut bei der Sache, die Qualitäten der Partitur werden hörbar. Nicht nur bei der Sturmmusik zu Beginn der Oper, sondern an weiteren Stellen, wo Verdi Forte-Muskeln spielen lässt, langt Gatti indessen manchmal zu sehr hin, so dass sich der Klang verhärten kann. Dabei gelingen sehr wohl innig ausmusizierte weiche Partien. Gelegenheit dazu, die Dynamik noch etwas auszutarieren, böte sich nun in den weiteren Vorstellungen.