Schäkern mit der Dame und dem Publikum

Peter König, Der Bund (17.10.2011)

The Rake's Progress, 15.10.2011, Bern

Moritat und Märchen – das Stadttheater verbindet in der letzten Berner Regie-Arbeit von Marc Adam beide Aspekte von Strawinskys «The Rake’s Progress» zu einer fulminanten Revue.

Als hätten sich die Schweizer Theater abgesprochen, ist der diesjährige Saisonauftakt in der Oper ein eigentliches Festival des 20. Jahrhunderts: Nach Brittens «Sommernachtstraum» in Luzern, Bergs «Wozzeck» in Basel und Schostakowitschs «Nase» in Zürich ist nun Bern an der Reihe mit «The Rake’s Progress» von Igor Strawinsky.

Wer seinen «Feuervogel» oder den «Sacre du Printemps» kennt, käme nie auf die Idee, dass diese Oper (frei übersetzt etwa: Der Werdegang des Tunichtguts) vom selben Komponisten stammen soll. Mit nur 60 Jahren auf dem Buckel ist das neoklassizistische Kammerspiel eines der jüngeren Werke im Repertoire und eine der wenigen Nachkriegsopern überhaupt.

Moralisieren mit Humor

Das gleichermassen literarische wie tiefsinnige, oft auch witzige Libretto von W. H. Auden inspirierte Strawinsky zu wunderbarer Musik, zu einem Feuerwerk eingängiger Melodien und zu vielen Zitaten aus der Operngeschichte.

So prototypisch das Thema der unbeirrbaren Liebe und der grenzenlosen Gier ist, hat Strawinskys Werk nichts Klischeehaftes. Es ist ein symbiotisches Moralisieren mit Humor. Das Satansmotiv ist weder neu noch originell – Werke wie «Faust», «Mefistofele» oder «Robert le Diable» lassen grüssen. Für den Teufel, hier Nick Shadow mit Namen, ist es keine Kunst, Tom Rakewell zu verführen. Denn Rakewell ist zu allem entschlossen, was ihn schnell und vor allem ohne Arbeit reich macht. Zwar vergeht von einer Sternschnuppe bis zum Wunsch nach Geld manche Minute, doch dann ist er rasch bereit, der geliebten Anne den Rücken und sich den Londoner Vergnügungen zuzuwenden.

Wie aber Shadow zu Werk geht, hat es in sich. Er kokettiert und charmiert, flattiert der Dame und schäkert mit dem Publikum, gurrt und gurgelt, dass es eine Freude ist.

Grossartige Ensembleleistung

Robin Adams ist die Partie wie auf den Leib geschrieben. Zur umwerfenden Mimik gesellt sich sein viriler, hier gepflegt, manchmal fast liedartig eingesetzter Bariton. Dass sein Englisch perfekt ist, erstaunt weniger als beim übrigen, gut verständlichen Ensemble, das damit ganz nebenbei die Mär widerlegt, das sei keine Opernsprache.

Dass Anne mit Nachnamen Trulove (wahre Liebe) heisst, passt so gut wie die andern Namen: Old Nick ist eine Bezeichnung für den Teufel, und Rake hat zwar viele Bedeutungen, hier aber geht es um den Tunichtgut und Nichtsnutz. Rachel Harnisch macht die Anne zum ätherischen Gegenentwurf zur Londoner Demi-Monde, mit reiner, heller, höhensicherer und nie forcierter Tongebung. Niclas Oettermann, als Paul in der «Toten Stadt» unvergessen, gibt auch die exponierte und nicht zu unterschätzende Partie des Tom Rakewell mit nie erlahmender Kraft und totalem Einsatz. Rakewell, kein Sympathieträger, hat auch Momente der Reue und der Besinnung, Oettermann gelingt die Gratwanderung überzeugend.

Transparenz und Präzision

Zurück am Haus ist die famose Claude Eichenberger, deren Mezzo für die Türkenbaba genau die richtige dunkle Färbung hat. Mit sorgsam gezügelter Dynamik gestaltet sie eine Jahrmarktpuppe aus Fleisch und Blut; wie viel Verachtung sie etwa in die zwei Worte «. . .this Person?» legt, macht schaudern.

Als Auktionator nutzt der bewährte Andries Cloete eine weitere Chance, sich für grössere Aufgaben zu empfehlen, und dies mit so viel Verve, dass ihm der Hammerkopf davonfliegt. Lisa Wedekind als Mother Goose und Pier Dalàs aus dem von Bohdan Shved akkurat getrimmten Chor runden eine Glanzbesetzung ab. Srboljub Dinic hat Graben und Bühne straff im Griff, betont mit dem Berner Symphonieorchester das Kammermusikalische, wägt die Tempi sorgsam ab und sorgt für Transparenz und Präzision.

Ironie auf allen Ebenen

Dass das Wort «progress» im Sinne von «Fortschritt» eher positiv besetzt ist, ist nur eine weitere ironische Komponente dieser Oper. Dazu passt auch, dass sich der Chefdirigent und der vormalige Intendant nochmals zusammenraufen mussten: Marc Adam, der Regie führte, und Maestro Srboljub Dinic hatten nicht viel Heu auf der gleichen Bühne. Es ist also nicht frei von Ironie, dass den beiden jetzt, nach Adams Ablösung, eine so mustergültige Umsetzung gelingt.

Adam ist nicht der Versuchung erlegen, das Stück in die Finanzbranche der Neuzeit zu verlegen. Sein Konzept bleibt genügend abstrakt, um das Hauptthema «Liebe vs. Gier» zeitlos und gültig erscheinen zu lassen.

Die Bühne von Johannes Leiacker mit einer dominanten Showtreppe als Konstante verblüfft durch schnelle Umbauten und illustriert atmosphärisch dicht den Abstieg vom Sternenglanz ins Elend. Kahle Mauern und Feuertreppen, Jahrmarktzauber und Glitter ergeben eine bunte Revue für die Sinne. Die Londoner Hurenhäuser und Hinterhöfe stehen in grellem Kontrast zum ländlichen Idyll der Truloves. Die Kostüme von Pierre Albert sind mal so schrill, als sänge Thomas Gottschalk, mal exaltiert-exotisch und bei Anne einfach nur schön. Das Publikum reagierte zu Recht enthusiastisch.