Abstieg

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (17.10.2011)

The Rake's Progress, 15.10.2011, Bern

Strawinskys «The Rake's Progress» in Bern

Mit seiner 1951 vollendeten Oper «The Rake's Progress» hat Igor Strawinsky den letzten und gleichzeitig längsten Beitrag in der Reihe seiner neoklassizistischen Werke geschrieben. Seit «Histoire du soldat» und «Pulcinella» war es dem Komponisten stets darum gegangen, in verschiedene stilistische Masken zu schlüpfen und sich in ihnen auszutoben. Das Tummelfeld für «The Rake's Progress» bildet die europäische Oper von Monteverdi bis zum italienischen Belcanto, wobei Mozart, auch in der Orchesterbesetzung, die grösste Reverenz erwiesen wird. Strawinsky ergeht sich aber nicht in einfachen Stilkopien, sondern verfremdet und ironisiert die realen und fiktiven Vorlagen in verschiedener Weise. Er tut dies hier allerdings nicht so stark wie etwa bei der «Histoire» oder im Opern-Oratorium «Oedipus rex».

Umso mehr braucht es bei der Interpretation eine eingreifende Hand, welche diese Verfremdungsverfahren hervorkehrt. Bei der Premiere von «The Rake's Progress» am Stadttheater Bern sind diese typisch Strawinskyschen Elemente aber zu wenig deutlich zum Vorschein gekommen. Srboljub Dinić, der musikalische Direktor des Stadttheaters, bringt mit dem Berner Symphonieorchester eine saubere, ausgewogene, aber auch sehr glatte Wiedergabe zustande. Die rhythmischen, harmonischen und melodischen Stacheln, die Strawinsky der Partitur einverleibt hat, sind bei dieser Interpretation kaum zu spüren. Da müsste es im Orchester einfach um einiges mehr kratzen, reiben und beissen.

Ironie wäre auch ein Ansatzpunkt für die Inszenierung. Denn die am Schluss vom Ensemble verkündete Moral, dass Müssiggang unweigerlich auf die schiefe Bahn und ins Verderben führt, können Strawinsky und seine Textdichter Wystan H. Auden und Chester S. Kallman kaum ernst gemeint haben. Doch Regisseur Marc Adam, im Sommer eben von seinem Posten als Intendant des Stadttheaters Bern zurückgetreten, erzählt die Geschichte des liederlichen Tom Rakewell, der vom teuflischen Nick Shadow zu einem ausschweifenden Leben im Sündenpfuhl London verführt wird, ganz ungebrochen: so, wie man eine Oper von Donizetti auf die Bühne bringen könnte, und so, als hätte noch nie ein Regisseur den Versuch unternommen, diese Story nach ihrer Hintergründigkeit zu befragen.

Sinnbild für den steten Abstieg des Helden bildet eine von Johannes Leiacker entworfene Riesentreppe, auf und vor der sämtliche Szenen spielen. Auch auf die Bühnenrückwand sind mehrere Treppen projiziert, die unten ins Leere führen. Auf das London des 18. Jahrhunderts verweisen einzig das englische Tapetenmuster in Toms Stadtwohnung und die Perücke des Auktionators, der die Habe des pleitegegangenen Lebemanns versteigert. Im Übrigen bewegen sich die Kostüme von Pierre Albert in einem historischen Niemandsland und verzichten auf Aktualisierung.

Niclas Oettermann spielt die Hauptrolle des Tom Rakewell als lockiger «Good guy», der trotz allen Ausschweifungen im Grunde immer an der Liebe zu seiner Verlobten festhält und der auch stimmlich den Spagat zwischen diesen Welten hervorragend schafft. Rachel Harnisch mimt als Anne gleichzeitig die Tochter aus gutem Hause und die Unschuld vom Land, die noch zu ihrem Tom steht, als der bereits im Irrenhaus eingesperrt ist. Mit ihrem lyrischen Sopran und ihrer zur Schau gestellten Naivität wirkt sie in dieser Schlussszene am stärksten, während sie als Konkurrentin der Türkenbab einen ratlosen Eindruck hinterlässt. Die Bab von Claude Eichenberger erscheint trotz Bart als viel zu hübsche Haremsdame, als dass sie den erforderlichen monströsen Charakter sichtbar machen könnte.

Auch Lisa Wedekind als Puffmutter Goose ist zu knusprig geraten, so dass man Toms Widerwillen nicht versteht, wenn er von ihr abgeschleppt wird. Eindimensional agiert Carlos Esquivel als rechtschaffener Vater Trulove. Eine überzeugende Besetzung ist der Nick Shadow von Robin Adams, der das Wechselspiel von Kumpel und Bösewicht sowohl stimmlich wie schauspielerisch ausgezeichnet beherrscht. Die Duette von Tom und Nick bilden denn auch die Glanzpunkte der Berner Aufführung.