Masse und Macht

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (11.04.2006)

Turandot, 09.04.2006, Zürich

Puccinis «Turandot» im Zürcher Opernhaus

Lange ist Giacomo Puccinis chinesische Märchenoper «Turandot» in Zürich nicht mehr aufgeführt worden, seit der Festwochen-Produktion von 1988 im Hallenstadion. Doch es scheint, als sei die Zeit stillgestanden. Monumental ist die grau-grüne Wandkonstruktion, die Peter Sykora entworfen hat, exotisch-pittoreske Akzente setzen seine Kostüme, und das mit Totenmasken dekorierte Kabinett, in dem die drei Minister am Hof der männermordenden chinesischen Prinzessin (Ping: Gabriel Bermúdez, Pang: Andreas Winkler, Pong: Bogusaw Bidziski) sich nach idyllischer Häuslichkeit sehnen, wirkt makaber und grotesk wie die Szene selbst. Nicht sehr elegant dann allerdings die Entsorgung dieses Raums im Bühnenhimmel, bevor wieder die Palastfassade zum Vorschein kommt. Das Volk beziehungsweise der Chor verschmilzt als gesichtslose, bald wogende, bald erstarrte Masse mit dem Mauerwerk. - «Turandot» in Breitwand- Format, wie gehabt.

Eine auf die Dimensionen der Opernhausbühne zugeschnittene alternative, intimere Lesart scheint der Regisseur Giancarlo del Monaco nicht in Betracht gezogen zu haben, so wenig wie die Aufführung Gebrauch macht von Luciano Berios neu komponiertem Schluss. Vielmehr wird die altbekannte Version Franco Alfanos verwendet, der das von Puccini unvollendet hinterlassene Werk aufgrund von Skizzen eher behelfsmässig denn inspiriert fertig gestellt hat. Da steht auch der Dirigent Alan Gilbert auf verlorenem Posten. Er hält den grossen Apparat fest im Griff, stellt mit dem Orchester die explosive Dramatik der Musik in aller Schärfe heraus, versteht sich aber auch auf die raffinierten koloristischen Effekte von Puccinis Exotismus.

Del Monacos Personenführung bleibt bei so viel Ausstattungspomp summarisch. Turandot, die «mit Eis umgürtete Prinzessin», die, traumatisiert durch die Vergewaltigung einer Ahnin, ihre Freier mittels unlösbarer Rätsel scharenweise dem Henker ausliefert, hält sich meist im Hintergrund der Bühne auf, was den ohnehin nicht voluminösen, wenig durchschlagskräftigen Sopran von Paoletta Marrocu zusätzlich strapaziert. Dass sich mit dieser Sängerin eine andere, nicht brutale, sondern verletzliche, verängstigte Turandot hätte kreieren lassen, diese Chance hat der Regisseur nicht genutzt. Sein Augenmerk gilt weit mehr Calaf, dem unbekannten fremden Prinzen, der gleichsam als Ausserirdischer im Kaiserpalast landet, während seine Begleiter - die in weitgespannten, kunstvoll ausmodellierten Phrasen mit grosser Ausdruckskraft singende Liù von Elena Mouc und der stimmlich noble Timur von Pavel Daniluk - als gewöhnliche Wanderer daherkommen.

Das hier gezeichnete Rollenbild Calafs passt wie massgeschneidert zu José Cura und seinem dunklen, mehr mit Kraft und Druck denn geschmeidig geführten Tenor. Lässig verkörpert er den Macho pur, dem es nicht um Liebe, sondern um Eroberung und Macht geht. Es bleibt dabei kein Klischee ausgespart, weder die schwarze Lederjacke noch die Sonnenbrille und der gelangweilte Griff zur Zigarette beim Auftritt des Kaisers Altoum (Miroslav Christoff) - wann endlich wird das Rauchen auch auf den Bühnen verboten? Etwas Besonderes hat sich der Regisseur für Calaf aber doch ausgedacht: Er ist ein technologisch hoch aufgerüsteter Westler und löst die drei Rätsel Turandots nicht kraft seiner Intuition, sondern mit Hilfe eines Laptops.

Am Schluss wandelt sich nicht nur die Prinzessin, von Calaf aus ihrer zeremoniellen Kleiderpracht befreit, ihr ganzes altes Reich beugt sich der Kultur des Fremden. Das Volk erscheint plötzlich in westlicher Gewandung, Verlobung gefeiert wird mit Champagner, während im Hintergrund die moderne nächtliche Skyline von Schanghai sichtbar wird, fragwürdige Reverenz an die dortige Oper, die als Koproduzentin diese Zürcher Inszenierung übernehmen wird. - Hier hat sie durchaus Effekt gemacht, das Premierenpublikum applaudierte kräftig.