Strawinsky fehlt auf Berns Bühne der doppelte Boden

Alfred Ziltener, Die Südostschweiz (17.10.2011)

The Rake's Progress, 15.10.2011, Bern

Das Stadttheater Bern hat Igor Strawinskys Oper «The Rake’s Progress» auf die Bühne gebracht. Die Aufführung bleibt dem zweideutigen Werk aber einiges schuldig.

Igor Strawinskys Oper «The Rake’s Progress» ist ein liebevoll-ironisches Spiel mit der Oper des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Stadttheater Bern hat sich nun an dieses heikle Werk gewagt. Srboljub Dinic dirigiert; Regie führte der im Sommer zurückgetretene Intendant Marc Adam.

Das 1951 in Venedig uraufgeführte Stück ist eine «Faust»-Travestie. Mephisto heisst hier Nick Shadow; er ködert den naiven Landjungen Tom Rakewell, der vom raschen Aufstieg träumt, mit einer angeblichen Erbschaft und lockt ihn ins sündige London. Dort führt er ihn Stufe um Stufe in den finanziellen und moralischen Bankrott. Nicks Gegenspielerin ist Toms Verlobte Ann Truelove. Sie folgt dem Geliebten und muss seinem Verfall zusehen. Schliesslich verlangt Nick die Seele seines Opfers als Lohn für seine Dienste. Doch Anns Liebe ist stärker als er. Tom überlebt, wird aber wahnsinnig.

Spiel mit Zitaten

Der Komponist nimmt hier die alte Form der Nummernoper wieder auf. Er schreibt Arien, Ensembles und cembalobegleitete Rezitative. Seine Musik orientiert sich an Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart und dem frühen Giuseppe Verdi. Doch die barockisierenden Intraden, die Koloraturkadenzen und Belcanto-Linien sind stets unverkennbarer Strawinsky. Am Ende verkünden – wie in Mozarts «Don Giovanni» – die Protagonisten gemeinsam die Moral der Geschichte, dass nämlich Müssiggang aller Laster Anfang sei. Das instrumentale Gelächter im Orchester zeigt jedoch: Ernst nehmen muss man das nicht. Hier wird die distanzierende Ironie besonders deutlich, die das ganze Stück prägt: Wie die musikalischen Stile werden bekannte Opernsituationen – die Friedhofszene, die Wahnsinnsszene – und -emotionen zitiert. Jeder Takt steht quasi in Anführungszeichen.

Behäbige Aufführung

Von dieser Doppelbödigkeit ist in Bern kaum etwas zu merken. Liebesglück und Liebesleid der Protagonisten lässt Dinic mit quasi-romantischer Unmittelbarkeit ausspielen. Und vom quirligen, farbenreich funkelnden Pingpong der musikalischen Motive bleibt in seiner behäbigen Lesart wenig übrig. Schwerfällig ist auch die Inszenierung. Der Bühnenbildner Johannes Leiacker hat eine raumfüllende, elegant geschwungene Treppe der Fünfzigerjahre gebaut, deren Stufen in wechselnden Farben leuchten. Hier arrangiert Intendant Adam banale Bilder. Dass Nick im Bordell die Zeit rückwärts laufen lässt, macht er ebenso wenig deutlich wie später Toms Traum von der Maschine, die Steine in Brot verwandelt.

Facettenreicher Nick

Bleiben die Sänger: Niclas Oetterman als Tom hat einen prachtvollen Tenor, singt aber mit mehr Kraft als Eleganz. Rachel Harnisch ist mit sicher geführtem, mädchenhaft leuchtendem Sopran eine anrührende Ann. Nick ist eine Paraderolle für Robin Adams. Mit kernigem, wandlungsfähigem Bariton gibt er der Figur viele stimmliche Facetten. Auch darstellerisch könnte er wohl mehr, als die pauschale Personenregie verlangt.

Der Beifall des Premierenpublikums war am Samstag kurz, aber herzlich.