Sigfried Schibli, Basler Zeitung (17.10.2011)
Strawinskys Oper am Stadttheater Bern
Treppen sind im Theater für vieles gut. Im Berner Stadttheater spielt eine riesige geschwungene Treppe gar eine Hauptrolle in Marc Adams Inszenierung der vor 60 Jahren uraufgeführten Strawinsky-Oper «The Rake’s Progress» (Bühne: Johannes Leiacker). Wie eine echte Bühnenfigur zeigt sie sich wandlungsfähig, sodass man zweifelt, ob sowas noch Einheitsbühnenbild heisst: Mal bedeckt sie ein schwarzer lämpchenglühender Teppich, mal erstrahlt sie in jungfräulich reinem Weiss, dann wieder blinken die Treppenstufen wie im Cabaret in pastellenen Farben.
Staksen und stolpern
Das geht munter Stägeli uf, Stägeli ab, wie Christoph Marthaler es einst vorgemacht hat, und ein-, zweimal denkt man vielleicht sogar an die genialen Staks- und Stolperaktionen auf der Treppe von Herbert Wernickes unvergessener «Fledermaus»-Bühne.
Zum Beispiel am Schluss der Oper, wo die fünf Hauptpersonen wie in Mozarts «Don Giovanni» die Moral von der Geschicht um den treulosen Tom Rakewell, seine Verführung durch den teuflischen Nick Shadow und das Schicksal der sitzen gelassenen Ann Trulove verkünden. Da blitzt etwas davon auf, was man mit einer Treppe anfangen könnte und was Regisseur Marc Adam leider allzu oft unrealisiert lässt.
Bis es so weit ist, dauert es in Bern ziemlich lang. Die rund 140 Spielminuten vergehen nicht so, dass man sagen könnte: im Fluge. Das Stück zieht sich hin. Das liegt nicht nur an der Regie, die mit stereotyper Einfallslosigkeit immer wieder Geld regnen lässt und immer dann, wenn Gefahr droht, Trockeneis-Nebelschwaden aufsteigen lässt, sich ansonsten aber wenig um ein schlüssiges Regiekonzept bemüht. Es liegt auch an der musikalischen Darstellung durch ein nur teilweise überzeugendes Sängerensemble und das hörbar überforderte Berner Symphonieorchester unter Srboljub Dinics Fuchtel.
Kondition und Ausstrahlung
Im ganzen Ensemble fehlt fast durchgehend die Leichtigkeit und Eleganz, die Strawinskys neoklassizistische Partitur verlangt. Niclas Oettermann ist als Tom Rakewell von bewundernswerter Kondition, presst aber seinen ohnehin etwas schwergängigen Tenor allzu oft. Der Bariton Robin Adams als teuflischer Nick Shadow ist ihm von Anfang an in jeder Hinsicht überlegen, was dem Stück die Pointe nimmt.
Ein Lichtblick ist die Sopranistin Rachel Harnisch als lupenrein, aber anfangs noch allzu zurückhaltend singende Ann Trulove, deren Vater bei Carlos Esquivel ganz ohne Ausstrahlung bleibt. Deutlich unter den Möglichkeiten der Partie bleibt auch die Türken-Baba von Claude Eichenberger, der alles Verrucht-Perverse fehlt.
Trotzdem herzlicher Applaus des Berner Publikums, das seinen früheren Intendanten Marc Adam wohl nicht mit einer kalten Dusche begrüssen wollte.