Oliver Meier, Berner Zeitung (17.10.2011)
Gut erzählt ist halb gewonnen: Marc Adam verabschiedet sich von Bern – mit einer soliden Inszenierung von Strawinskys Opernwerk «The Rake’s Progress», die aber musikalisch viele Wünsche offenlässt.
Gesund, nicht dumm, aber auch kein Grübler: So sieht er sich selber – Tom Rakewell, der Protagonist von «The Rake’s Progress», Strawinskys einzigem abendfüllenden Bühnenwerk. Und so schlittert er ins Verderben – nicht blind, aber doch ohne je recht zu wissen, wie ihm geschieht. Der Traum von Glück und Geld, genährt durch den zwielichtigen (Ver-)Führer Nick Shadow, treibt Rakewell vom Land in die Lasterhöhle London. Seine Verlobte Anne Trulove lässt er zurück, statt ihrer heiratet er die vollbärtige Jahrmarktattraktion «Baba the Turk», die ihm bald schon tödlich auf die Nerven geht. Damit nicht genug: Eine fatale Fehlinvestition treibt ihn in den Bankrott. Rakewell muss um seine Seele spielen und gewinnt – aber nur um den Preis seines Verstands. Jämmerlich verdämmert der vermeintliche Adonis am Ende in der psychiatrischen Anstalt – auf dem Schoss seiner geliebten Anne, die er für Venus hält.
Plakativer Erzähler
Marc Adam, bis letzten Juli Intendant des Stadttheaters, erweist sich bei seiner Abschiedsinszenierung weniger als Interpret mit Lust am Wagnis denn als solider, reichlich plakativer Geschichtenerzähler. Wie schon bei seiner letzten Inszenierung (Prokofjews «Liebe zu den drei Orangen» 2010) beweist er dabei Sinn für den «Grundton» des Werks, das als Pseudolehrstück weniger auf Identifikation denn auf Reflexion abzielt. Adam unternimmt wenig, um die Figuren zu individualisieren, zeichnet sie vielmehr als Typen zwischen (Märchen-)Traum und Ernüchterung.
Überragende Rachel Harnisch
Dieser Tom Rakewell ist weder ein «Wüstling» noch ein «Lebemann» (wie «Rake» traditionell übersetzt wird), vielmehr ein leichtsinniger Antiheld, ein gutmütig-naiver Kindskopf vom Lande, der nicht nur im Bordell von Mutter Goose (Lisa Wedekind) völlig neben den Schuhen steht. Niclas Oettermann verleiht ihm souverän Gestalt, auch musikalisch: Der Deutsche, der zuletzt mitunter zu kehligem Forcieren neigte, singt satt und geschmeidig, findet gar eindringliche Töne – etwa in seiner schwermütigen Liebes-Cavatine im ersten Akt. Robin Adams zeigt Nick Shadow derweil in einer Mischung aus Showmaster, Mephisto und Verführer – mit deutlichen Anleihen bei «seinem» Don Giovanni, den er im Frühjahr auf die Stadttheaterbühne brachte. Beide werden überstrahlt von Rachel Harnisch, die für ihr Rollendebüt als Anne Trulove zu Recht mit Sonderapplaus bedacht wird. Mit ihrem schlank geführten Sopran holt sie aus der zerbrechlichen Figur der «wahrhaft Liebenden» eine Fülle von Zwischentönen heraus. Weshalb Anne diesem unbeholfenen Naivling Tom so hartnäckig die Treue hält, klärt die Inszenierung nicht. Umso deutlicher arbeitet sie die konträren Modelle heraus, die durch die biedere «Vatertochter» Anne und die «Türkenbaba» repräsentiert werden: Claude Eichenberger zeigt die Bartfrau als selbstbewusste Jahrmarktbühnenkünstlerin, die auf keinen Mann angewiesen ist – am wenigsten auf so einen wie Tom. Zumindest gesanglich hat Eichenberger – trotz furioser Einlagen – dabei allerdings noch Steigerungspotenzial. Und das gilt auch für Carlos Esquivel, der in der Nebenrolle des Vater Trulove etwas blass bleibt.
Riesentreppe als Zitat
Strawinskys schwarze Komödie von 1951 ist nicht zuletzt eine Verbeugung vor der Operngeschichte. Der Komponist spielt darin nicht nur mit der traditionellen Form der Nummernoper, er wartet auch mit einer Fülle von Anspielungen, Stoff- und Stilzitaten auf. Hier setzt Marc Adam bei seiner Inszenierung an, die das Mittel der Ironie zu Recht nur sparsam einsetzt – gleich zu Beginn etwa, als eine Sternschnuppe durch den idyllisch-märchenhaften Sternenhimmel huscht.
Heterogen präsentieren sich die Kostüme (Pierre Albert), zitieren bald das 18., bald das 19. Jahrhundert, bald die 1950er-Jahre. Und selbst die Bühne (Johannes Leiacker) ist wohl ein Zitat: Die geschwungene Riesentreppe erinnert an die Inszenierung von Massenets Märchenoper «Cendrillon» am Stadttheater 2007 – Adams erstem Amtsjahr.
Die Treppe mit ihrem düsteren Unterbau ist nicht nur ein stimmiges Symbol, sie erweist sich auch als funktional – sei es in der Bordell-, in der Friedhofs- oder in der Versteigerungsszene. In letzterer trumpft Andries Cloete als Auktionator auf, der anstelle von Requisiten Rakewells «Frauenbesitz» unter den Hammer bringt. Nicht nur hier spitzt Adam die Themen Geld, Betrug und Käuflichkeit zu. Dass ausgerechnet in dieser Inszenierung Rakewells fatale Maschine fehlt, die angeblich Steine in Brot verwandeln kann, ist dagegen unverständlich. Und wieso Adam eine Giraffe zum heimlichen Leitmotiv gekürt hat, bleibt sein Regiegeheimnis. Wünsche offen bleiben bei dieser Märchenproduktion aber vorab in musikalischer Hinsicht. Das Berner Symphonieorchester begnügt sich mit seiner Begleitfunktion – und Dirigent Srboljub Dinić mit seiner Rolle als Designer sonorer Klänge. Dass Strawinsky mit diesem Werk schon auf bestem Weg zur Zwölftontechnik war, wird erst gegen Ende fassbar. So verdienstvoll es ist, dass Dinić mit dem BSO auf rhythmisch zackigen Furor verzichtet und den kammermusikalischen Geist des Werks ernst nimmt: Nicht selten wirkt die Musik so träge, eindimensional und temperamentlos wie Tom Rakewells Charakter.