Oliver Schneider, DrehPunktKultur (27.10.2011)
In Verdis „Otello“ steckt in Zürich der Wurm drin. Bei der letzten Premiere vor zehn Jahren war Ruggero Raimondi kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen, so dass Regisseur Sven-Eric Bechtolf den Bösewicht Jago selbst mimen musste, während der Gesang aus der Kulisse kam.
In der Vorwoche hätte Peter Seiffert sein Rollendebüt als „schwarzer“ Befehlshaber in einer Neuproduktion von Graham Vick geben sollen. Zum Glück war José Cura, der bereits 2011 die Titelpartie gestaltet hatte, bereit, einzuspringen.
Es ist der dritte „Otello“ in der Ära Pereira am Opernhaus Zürich. In Graham Vicks Inszenierung zeichnet Cura von Anfang an das Bild eines herrischen und gefühllosen militärischen Befehlshabers, in dem kein Jago das Feuer der Eifersucht entzünden muss. Wenn Otello Desdemona im vierten Akt in ihrem Brautkleid erwürgt, so macht er dies aus eiskalter Berechnung. Stimmlich überzeugt Cura immer noch mit seiner tragkräftigen, leicht verhangenen Mittellage und der sicheren Höhe, wobei sich allerdings zuweilen eine gewisse Kurzatmigkeit bemerkbar macht.
Thomas Hampson singt in Zürich seinen ersten Jago. Mit seiner Bühnenpräsenz und dramatisch-glutvollem Gesang bringt Hampson die Janusköpfigkeit von Otellos Fähnrich in den ersten beiden Akten überragend zur Geltung. In dem bravourösen Credo und der Traumerzählung im zweiten Akt gelingt ihm die Zeichnung eines charakterlich abgrundtief gesunkenen und nihilistischen Menschens.
Fiorenza Cedolins singt (noch) nicht in dieser Liga. Ihre Desdemona ist darstellerisch kühl und stimmlich nicht immer stabil, obwohl sie sich hörbar um Kontrolle bemüht. Erst im vierten Akt bringt auch sie ihre Stärken im Pianobereich wunderbar zur Geltung. Dass eine so distanziert wirkende Frau auf Hauptmann Cassio (adäquat Stefan Pop) eine gewisse Erotik ausstrahlt, ist wenig glaubwürdig. Doch das kann auch am Regiekonzept liegen.
Graham Vick lässt das Eifersuchtsdrama vor dem Hintergrund von Nahost-Konflikt, Jihad und Immigrationsproblemen spielen. Dafür arbeiten er und sein Ausstatter Paul Brown in den ersten zwei Akten mit wenigen plakativen Elementen im schwarzen Bühnenraum, vor allem dem christlichen Kreuz, einer Moschee im Miniaturformat. Wenn sich Otello und das Volk mit schwarzer Farbe beschmieren, so steht Schwarz natürlich für das Böse. Vick deutet „Otello“ bewusst nur pessimistisch, das Gute blendet er aus. Wenn die Zyprioten im ersten Akt Otellos Sieg über die Türken mit dem „Feuer der Freude“ bejubeln, zeigen Videos brennende Städte und Wälder sowie Bombeneinschläge. Für die Angst vor Fremdem greifen Vick und Brown auf Elemente aus Abstimmungsplakaten einer rechtspopulistischen Schweizer Partei zurück.
Bei allen diesen Bildern stellt sich allerdings die Frage, wie nötig sie sind, um den Konflikt auf persönlicher Ebene glaubhaft darzustellen. Anderes fällt komplett unter den Tisch, wie Otellos Aussenseiterrolle.
Konzentrierter ist die Inszenierung nach der Pause: Im dritten Akt zeigt sich Otello als noch mächtiger, moderner militärischer Führer und Politiker mit seiner First Lady Desdemona und dem venezianischen Gesandten, während Vick die Szene im vierten Akt endlich auf die menschliche Sackgasse reduziert, aus der ob Otellos Verblendung keine Umkehr mehr möglich ist.
Die ordnende Hand im Graben gehört Daniele Gatti, der auch 2006 die letzte Staatsopernpremiere von Verdis Spätwerk dirigiert hat. Dem Zürcher Chefdirigenten gelingt der Spagat zwischen orchestraler Dramatik und Sängerunterstützung souverän. Während er in den ersten Akten mit Schwung schlank durch die Partitur führt, kostet er im vierten Akt die breit ausschwingenden lyrischen Phrasen aus und hinterlässt den Eindruck einer ausgereiften Lesart. Die von Jürg Hämmerli einstudierten Chöre schlagen sich wacker, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit.