Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (12.12.2011)
«Palestrina», das Hauptwerk von Hans Pfitzner, am Opernhaus Zürich
Grossartig, dieser Abend im Opernhaus Zürich, wenn auch alles andere als einfach. «Palestrina», die Oper, die Hans Pfitzner über sich selber geschrieben hat, lässt musikalisch viel erleben, sie gibt aber auch nachhaltig zu denken.
«Palestrina» zu mögen, überhaupt die Musik von Hans Pfitzner (1869 bis 1949), gilt noch immer als inkorrekt. Pfitzner war ein Traditionalist und ein Anhänger des Geniekults; in scharfen, um nicht zu sagen: geifernden Worten hat er vor der durch Ferruccio Busoni verkörperten «Futuristengefahr» gewarnt und gegen «Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz» angeschrieben. Und mehr noch: Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs ist Pfitzner zum Nationalisten geworden und dann zum glühenden Anhänger Hitlers. Noch 1944 hat er Hans Frank, dem berüchtigten «Generalgouverneur» Polens, eine Komposition zugeeignet. Die Jahre nach dem Krieg verlebte er gedemütigt in einem Altersheim in Garmisch, just neben der Villa seines langjährigen Rivalen Richard Strauss. Dass es die Wiener Philharmoniker waren, die ihm kurz vor dem Lebensende noch einmal gross huldigten, ist vielleicht mehr als Zufall.
Nichts fürs Nebenherhören
Von alldem berichtet «Palestrina», das Hauptwerk Hans Pfitzners – das darf man sagen, obwohl der vom Komponisten selbst verfasste Text und die Partitur 1915 abgeschlossen waren und das Stück zwei Jahre später im Münchner Prinzregententheater uraufgeführt wurde, übrigens unter der musikalischen Leitung des jüdischen Dirigenten Bruno Walter, der in diesem Fall sein Leben lang einen Unterschied machte zwischen dem Künstler und dem Menschen. Pfitzners Oper handelt von dem Komponisten Giovanni Pierluigi Palestrina (1525 bis 1594), einem Meister der Polyfonie der Renaissance, von dem die Legende berichtet, er habe mit einer sechsstimmigen Messe zum Gedenken an Papst Marcellus II. die abendländische Musik gerettet. Als Nachfolger von Marcellus habe Paul IV. nämlich die kunstvolle Mehrstimmigkeit aus der Kirche verbannen wollen, wovon er durch die Totenmesse Palestrinas abgehalten worden sei. Ein fetziges Opernsujet ist das nicht gerade, zumal in der Geschichte keine einzige Frau vorkommt und Eros einen freien Abend hat. Darum sind Aufführungen von «Palestrina» eine Rarität.
Die Musik Pfitzners, das kommt dazu, ist gewiss auch nicht jedermanns Sache. Zum Nebenherhören eignet sie sich nicht; wer lieber «Le Comte Ory» oder «Rigoletto» mag, wird hier wohl draussen bleiben. Man muss sich ein wenig angewöhnen an diese herbe Sprache, sich einlassen auf den bisweilen trockenen Ton und die kontrapunktische Schreibweise. Wer das tut, wird belohnt durch eine Musik, welche die handelnden Figuren scharf charakterisiert, die Geschichte durch eine Vielzahl von Anklängen bereichert und sich immer wieder wagemutig aus dem Fenster lehnt. Natürlich ruht Pfitzners Haus ganz auf den Fundamenten der Dur-Moll-Tonalität, aber so ausserhalb seiner Zeit stand er nicht, dass er die Räume dieses Gebäudes nicht bis in ihre fernsten Winkel hin ausgeleuchtet hätte. Eine Entdeckung nach der anderen lässt sich da machen, und je näher man dem Komponisten kommt, desto stärker entfaltet sich der Sog seiner Klänge. Allein die drei Vorspiele zu den drei Akten, sie bleiben einem sehr lange im Ohr.
Das ist zuallererst das Verdienst von Ingo Metzmacher, der im Opernhaus Zürich das Orchester und das riesige Ensemble auf der Bühne zu erstklassigen Leistungen motiviert, vor allem aber die Partitur in einer speziellen Weise ausleuchtet. Ganz klar arbeitet der Dirigent die Dreiteiligkeit des Werks heraus, das Pfitzner selbst als Triptychon gesehen hat. Anders als Christian Thielemann, der Pfitzner-Spezialist vom Dienst, der in jedem Fall die dunkle und betörende Seite der Partitur betont, zielt Metzmacher im ersten Akt auf ihre visionären Züge. Fast dekonstruiert wirkt die Musik hier; trocken, geradezu expressionistisch klingt sie – was die Orchesterbesetzung mit ihrem starken Bläserapparat und der im Vergleich dazu kleinen Streichergruppe (mehr wäre wünschenswert, hat im Zürcher Graben aber nicht Platz) noch unterstreicht. Zu animiertem, witzigem, schlagfertigem Parlando findet sie im zweiten Akt, während sie am Ende in unsagbarer Resignation versinkt. Wer das mit offenem Ohr und wachem Herzen verfolgt, wird es so rasch nicht vergessen.
Stark geworden ist die musikalische Aussage, weil es hier zwar um eine Künstlerfigur im Allgemeinen, im Grunde aber um Hans Pfitzner geht. In «Palestrina» hat sich der Komponist sein künstlerisches Credo von der Seele geschrieben. Der erste Akt zeigt Palestrina in tiefster Depression und unfähig, eine Note zu Papier zu bringen. Seine geliebte Gattin ist gestorben, wovon er sich nicht erholt hat. Und sein Lieblingsschüler Silla – der Ausstatter Mathis Neidhart zeigt die quicklebendige Sopranistin Judith Schmid in dieser Hosenrolle als einen Jugendlichen von heute mit löchrigen Jeans, Freitag-Tasche und Red-Bull-Dose – strebt fort: nach Florenz, wo die Monodie blüht und mit ihr der neue musikalische Stil, der auf Melodie und Generalbass beruht. Ighino – Martina Janková versieht die Partie von Palestrinas Sohn mit der ihr eigenen Anmut, allerdings auch mit irritierendem Vibrato – bekümmert das alles ungemein, er sucht nach einem Ausweg, und so ersinnt er für seinen Vater, der in seinem heruntergekommenen Interieur vor sich hin grübelt, ein grosses Spektakel.
So jedenfalls sieht es der Regisseur Jens-Daniel Herzog. Zwingend ist der Ansatz nicht, bisweilen kommt er dem Geschehen auch in die Quere – aber immerhin bietet er die Möglichkeit, der doch sehr auf Ästhetik und Kirchenhierarchie bauenden Geschichte ein wenig aus dem Weg zu gehen. Palestrina muss ja unbedingt zu Kräften kommen und wieder Musik schreiben können, denn er ist von dem ebenso machtbewussten wie kunstsinnigen Kardinal Borromeo (Thomas Jesatko) beauftragt, für das Konzil zu Trient (1545 bis 1563) die in Fragen der Kirchenmusik entscheidende Messe zu komponieren. Bei Pfitzner ereilt Palestrina die Erleuchtung durch die Erscheinung einer Gruppe berühmter Vorgänger, die ihn zur Pflicht ruft, und der verstorbenen Gattin, die ihn an ihre Liebe erinnert – worauf ihm die Inspiration als Geschenk Gottes wieder zuteilwird und er die verlangte Messe in einer Nacht zu Papier bringt. In Zürich erscheint dieser entscheidende Vorgang als eine von Ighino evozierte Maskerade. Und in ihrer Ausformung erinnert sie deutlich an den autobiografischen Kontext, dem sie entstammt.
So geht es weiter. Die Konzilsversammlung des zweiten Akts findet nicht in einem Tridentiner Festsaal, sondern in der abgewetzten Wohnung Palestrinas statt. Dort finden die Eminenzen mit ihren wallenden Gewändern zu purer Gewöhnlichkeit. Auch ein Kardinal muss einmal, er tut es in der Toilette Palestrinas, scharf beobachtet vom Publikum. Der Kardinallegat Bernardo Novagerio (Rudolf Schasching) wiederum vergnügt sich am Küchentisch mit Speis und Trank in Mengen, während Giovanni Morone (Martin Ganter) als Vorsitzender ein straffes Regime führt, dem sich Graf Luna (Oliver Widmer) als Sprecher des spanischen Königs dennoch zu widersetzen vermag. Trotz der ordnenden Hand des Zeremonienmeisters Severolus (Reinhard Mayr) endet die Sitzung im Chaos. Die Frage ist nur, ob dieser Akt nicht besser wirkte, wenn er szenisch nicht so aufgeplustert würde; das Spiel auf der Bühne bildet ja bloss die Folie, vor der die Musik die Lächerlichkeiten und Eitelkeiten der Konzilsteilnehmer anprangert.
In der Einsamkeit der Klänge
Und noch einmal arbeitet Pfitzner hier ein eigenes Problem ab. Selber autoritätshörig, sieht er den Künstler ausserhalb der Ordnungen und der Hierarchien; der Sponsor, hier der Kardinal Borromeo, mag drohen, so viel er will, das Genie lässt sich nicht zwingen. Und ausserhalb heisst: zuoberst – das zeigt der dritte Akt, in dem der Papst höchstselbst erscheint und den alten Palestrina zu sich ruft. Pfitzner hat das als einen Höhepunkt der Partitur komponiert, der Regisseur bricht es und zeigt es als Fortsetzung des von Ighino für seinen Vater inszenierten Spiels. So wird Alfred Muff, der noch immer herrlich klingt, inzwischen aber arg wabert, eilig als Papst verkleidet. Palestrina interessiert das alles nicht mehr; er versinkt in der Einsamkeit seiner Klänge. Der Tenor Roberto Saccà bewältigt diese anforderungsreiche Hauptpartie mit glänzender Stimme, aber auch als wahrer Charakterdarsteller; wie er diesen Schluss zeigt, entlässt einen alles andere als unberührt.