Herbert Büttiker, Der Landbote (12.12.2011)
Ein sperriges Werk, ein unsympathischer Komponist – mit Hans Pfitzners «Palestrina» macht es sich ein Opernhaus nicht einfach. Aber ein grossartiges Ensemble nimmt in Zürich alle Hürden, die Inszenierung umgeht sie – raffiniert und routiniert.
Dass Hans Pfitzner (1869–1949) heute «nur» als hochproblematischer Mitläufer und nicht als Protagonist im NS-Staat gelten muss, war nicht sein Wille. Er sah sich als den wahren Sachwalter der grossen deutschen Musikkultur und litt unter der Zurücksetzung, als er – ein zu schwieriger und unbequemer Querkopf, aber im Umgang mit den Gegnern durchaus skrupellos genug – 1933 seine Zeit gekommen sah. Für seinen Nachruhm wäre es besser gewesen, er hätte sich an seine eigene Vision eines autonomen und unpolitischen Künstlertums gehalten, die er in seiner Oper «Palestrina» zwei Jahrzehnte früher gestaltet hatte. Die Idee dazu hatte ihn schon Jahre begleitet, bis er 1912 mit der Komposition des eigenen Textes beginnen konnte und 1917 in München die Uraufführung erfolgte.
Von einer enthusiastischen Kritik (so Thomas Mann) wurde das Werk als Künstlerdrama den «Meistersingern» an die Seite gestellt, wobei Pfitzners Pointe gerade darin lag, dass sein Palestrina anders als Hans Sachs sein Werk ausserhalb der Lebenswelt schafft, nur der Inspiration folgend, die ihn aus einer höheren Sphäre lenkt.
Auftrag und Inspiration
In diesem Licht gab Pfitzner der Überlieferung, die den Komponisten Giovanni Pierluigi Palestrina als Retter der Kirchenmusik oder in romantischer Optik als Retter der jenseitsmächtigen Musik überhaupt zeichnet, in seiner «Musikalischen Legende» eine eigene Wendung: Der Auftrag des in der Frage der Kirchenmusik zerstrittenen Konzils, eine mustergültige Messe zu komponieren, trifft Palestrina mitten in einer Lebens- und Schaffenskrise und wird von ihm gegen alles Wünschen, Fordern und Drohen abgelehnt. Aber dann überfällt ihn die Inspiration, die Missa Papae Marcelli entsteht im Schaffensrausch einer Nacht. Die Kirche erfährt davon nichts und wirft Palestrina ins Gefängnis, um ihn zur Arbeit zu zwingen. Da händigt Palestrinas Sohn Ighino die Noten aus, das Werk wird aufgeführt und enthusiastisch begrüsst. Der Papst erscheint persönlich bei Palestrina, um ihn zu beglückwünschen. Der freilich nimmt, in musikalische Gedanken versunken, davon kaum Notiz.
Was machen Jens Daniel Herzog (Inszenierung) und Mathis Neidhardt (Bühne) mit dieser Legende vom absoluten Künstlertum? Natürlich liesse sich im Chiaroscuro von Bildern des 16. Jahrhunderts – Palestrinas Epoche – wunderbar stimmungsvoll erzählen, mit allem Schauer von Engelschören, der Erscheinung der grossen Meister und der verstorbenen Frau, mit hymnischer Musik und Glockenklang, womit Pfitzner die Szene instrumentiert hat.
Die grosse Palette
Diese Musik, das lässt Ingo Metzmacher mit dem Orchester und dem Ensemble eindringlich hören, hat zwischen archaisierend herber Harmonik und süffiger Fin-de-Siècle-Allüre ihre originellen Qualitäten, die ihr nachgesagte Askese erweist sich bei aller zupackenden Derbheit und übersinnlichen Feinheit, den illustrativen Effekten, den schmachtenden Ariosi, den Dissonanzen und Akkordballungen bis zur Cluster-Wirkung als glatter Irrtum. Die kühne Idee, den Moment der Inspiration als Komposition darzustellen, gelingt jetzt auch im Opernhaus mit souveräner Klangregie, und der Abend als ganzer ist musikalisch ein imponierendes Plädoyer für das Werk.
Aber woher den Glauben für die Legende vom absoluten Künstlertum nehmen? Pfitzner selber hat diese Idee mit seinem kämpferischen Engagement für den Nationalsozialismus verraten, andere, die sie durchzuhalten glaubten, mussten erkennen, dass sie einer Illusion erlegen waren. So wäre es naheliegend, diese Widersprüche in einer Inszenierung wirksam werden zu lassen, die in der Palestrina-Legende die Pfitzner-Problematik ins Spiel brächte: Der ganze zweite Akt, wo Pfitzner in einer politischen Farce mit allen bösen Ingredienzien um Macht und Eitelkeit die Klerikerkaste am Konzil von Trient karikiert, wäre die Steilvorlage für ein düster glänzendes Zeitbild.
Nun blicken wir aber in eine jener in den Theatern für alle möglichen Stücke und Schauplätze inzwischen hundertfach variierten Saal- und Wohnanlagen der 60- und 70er-Jahre, auch mit Unschärfen bis zur Gegenwart, wie sie Laptops und Handy bedeuten – ein Déjà-vu im Allgemeinen und auch im Speziellen, denn dieser Palestrina gleicht aufs Haar jenem Künstler aus der Inszenierung von Schrekers Oper «Der ferne Klang» desselben Regie-Duos in der vorletzten Spielzeit, und in denselben Kleidern (beige Hose, dunkle Weste) steckt auch derselbe Sänger: Roberto Saccà, der hier wiederum in einer unerhört intensiven sängerischen und darstellerischen Leistung einen in der Moderne scheiternden Künstler vorführt, stimmlich zum tenoralen Exploit fähig, wo die Partie am stärksten herausfordert, konzentriert und existenziell berührend auch im Leisen und in den verhaltenen, verlöschenden Momenten – ein Ereignis.
Der Versuch, zwei Künstlerdramen aus derselben Epoche in dieser Weise als Fortsetzungsgeschichten zu präsentieren, mag eine spannende Ausgangslage sein, für die Hauptfigur allerdings ergibt sich die fatale Konsequenz, dass sie nicht nur unzeitgemäss wirkt, sondern geradezu in der Epoche verirrt: Die Garde der alten Meister, die ihm als Alter Ego erscheinen, reicht gerade mal – Pfitzners Optik gemäss – von Beethoven bis Brahms, und die Engel seiner Inspiration sind die Multiplikation seiner treu sorgenden Gattin (Irene Friedli), kurz, die schöpferische Grosstat ist bloss die Illusion eines biederen Musikers: Das ist auch eine Geschichte und ergäbe eine hübsche Künstlerfarce, wäre die Musik dazu von Offenbach und nicht von Pfitzner.
Deftig statt böse
Pure Comedy gar ist der zweite Akt, wo sich der Klerus – inszeniert als Albtraum Palestrinas – in der Wohnung des Komponisten zum Konzil trifft, auf den Sofas breitmacht, am Küchentisch Wurst isst, sich auf der gut einsehbaren Toilette erleichtert und so weiter – dank Drehbühne zeigt sich ein ganzes Rundpanorama ulkiger und, sorry, platter Verarschung. Dabei ist männliche Stimmgewalt versammelt, zum Beispiel mit Alfred Muff (Kardinal Madruscht), mit Martin Gantner (Giovanni Morone) oder besonders mit Thomas Jesatko (Carlo Borromeo), die auch für die böse politische Satire gut wären. Diese hat der gallige Pfitzner ja wohl gemeint und mit harmlos-skurrilen Randfiguren im Machtzirkel ein wenig garniert: Martin Zysset als vorlauter Bischof von Budoja, Michael Laurenz als verschlafener Abgesandter von Syrien und weitere liefern Kabinettstücke.
Eine Komödie der subtilen Art veranstaltet die Inszenierung schliesslich im dritten Akt: Der Auftritt des Papstes ist hier von Junior Ighino – köstlich dargestellt von der ewig jugendlich klingenden Martina Jankova – inszeniert (und bezahlt), um den grantelnden Vater aufzumuntern. Der verharrt in stiller Resignation, versteht, dass es seinen Schüler Silla – für einen Sonderapplaus gut: Judith Schmid – zu Bob Dylan zieht, und schliesst seinen Frieden mit der Welt, in die er nie gehört hat: Ighinos treuherzige Klamotte hat einen feinen Hauch tragischer Ironie.
Ob Pfitzners «Palestrina» nur noch so in unsere Welt gehört? Die Frage mag mit dieser das Stück in routinierter und raffinierter Regiemanier «entweihenden» Inszenierung offen bleiben.