Das Wunder der Metamorphose

Verena Naegele, Basler Zeitung (12.12.2011)

Palestrina, 10.12.2011, Zürich

«Palestrina» von Hans Pfitzner am Opernhaus Zürich

Man meint ihn zu kennen, Pfitzners Palestrina, dieses (neo-)romantische Genie, das – von seiner verstorbenen Frau als Muse geküsst –, das allgültige Kunstwerk schafft und der Gesellschaft zu Füssen legt. Palestrina, der anti-strahlende Held, der am Schluss laut Libretto in seiner einsamen Komponierstube «friedvoll» und in stiller Genugtuung nach dem Triumph seiner «Missa Papae Marcelli» sich «musikalischen Gedanken» hingibt, wozu leise verklingend Orgelmusik gespielt wird.

Ein luzides Bild, der verinnerlichte Jubel des Renaissance-Komponisten, über knapp vier Stunden aufgepeppt durch bombastisch besetzte, linear-archaisch gebändigte Orchestermusik – eine Künstler- und Bekenntnisoper zugleich. Das Kunst überhöhende und missbrauchende Germanentum, dem Pfitzner mit seiner Anbiederung an die Nationalsozialisten unterlag, schien unausrottbar.

Bis am letzten Samstag, da schafften Ingo Metzmacher als Dirigent und Jens-Daniel Herzog als Regisseur das Wunder der Metamorphose. Sprechend dafür das Schlussbild des gebrochenen Palestrina am Klavier, die Pistole am Kopf: Die ganze Geschichte ein Albtraum, eine Kopfgeburt, die Elend und Verzweiflung hinterlässt. Bei Herzog scheitert der sich in einer Schaffenskrise befindende Palestrina am Anspruch der Gesellschaft, das magische Kunstwerk zu liefern.

Einbildungskraft und Witz

Folgerichtig spielt das Vatikanische Konzil von Trient in Palestrinas im Stil der Siebzigerjahre eingerichteten Wohnung (Ausstattung Mathis Neidhardt). Die Wahnsinns-Imagination des Komponisten nimmt dabei höchst menschliche Züge an: Köstlich, wie die Kardinäle auf dem «Klo» gewisse Bedürfnisse verrichten, wie sich Rudolf Schasching als Bernardo Novagerio in der kärglichen Küche mit Gurken und Würstchen den Bauch vollschlägt und dabei wichtigtuerisch salbadert, oder wie Martin Zysset als Bischof von Budoja beim Konzil fast kreischend-hysterisch interveniert.

Eine gigantische Prügelszene, musikalisch agil, farbenreich und witzig dargeboten. Und mitten drin, als stiller Beobachter, der zweifelnde Komponist. Roberto Saccà gestaltet die geforderte Gebrochenheit Palestrinas kongenial, mit subtilen Mitteln ungewohnte Bereiche ergründend. Da steht nicht ein «jugendlicher Heldentenor» auf der Bühne, sondern ein genau deklamierender, oft im mezza voce sinnierender Sänger-Darsteller höchster Qualität.

Ingo Metzmacher führt die eigentümlich archaische Färbung der Palestrina-Musik zu neuen Ufern, mit zügigen Tempi und klar strukturiert, womit die angedeuteten musikalischen Stile gut hörbar sind. Der Gregorianische Choral etwa bei der Eröffnung des Konzils, oder die Florentinische Monodie beim Schäferlied des abtrünnigen Silla, von Judith Schmid mit Schmelz gesungen. Der Palestrina-Schüler erscheint bei Herzog als junger Flegel mit Softdrink, der sich sehr handgreiflich mit Ighino (Martina Jankova) streitet.

Schall und Rauch

Der Höhe- und Angelpunkt dieser aussergewöhnlichen Produktion bildet die «Erscheinung der alten Meister». Durch das hochkarätige Ensemble mit Oliver Widmer an der Spitze im Stile der niederländischen Polyfonie grossartig gesungen, szenisch erhellend in der Aussage. Denn bei Herzog erschienen nicht «Palestrinas Vorgänger aus dem 15. Jahrhundert», sondern Doppelgänger seiner selbst, mit Büchern seiner Hausgötter in der Hand: Schumann, Schubert, Mendelssohn, Weber oder Richard Wagner, dessen Schatten in Pfitzners Werk omnipräsent ist. In diesem Moment wird klar, dass selbst Carlo Borromeo (Thomas Jesatko) ein Hirngespinst Palestrinas ist, und alles Schall und Rauch ist.