Die Kardinäle streiten und essen Wienerli

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (12.12.2011)

Palestrina, 10.12.2011, Zürich

Das Zürcher Opernhaus zeigt Hans Pfitzners selten gespielte, 1915 vollendete Künstleroper «Palestrina»: Es ist ein eigenartiges Werk und eine exemplarische Aufführung.

Diese Strickjacke und die beigen Hausschuhe, die mühsamen Bewegungen und der erloschene Blick: Die Aufführung von «Palestrina» beginnt mit einem Déjà-vu. Man ist diesem Komponisten, dem die Inspiration so gründlich abhandengekommen ist, auf dieser Bühne schon einmal begegnet - in Franz Schrekers Oper «Der ferne Klang» war das, dargestellt wurde der Unglückliche auch dort von Roberto Saccà, der nun den Palestrina gibt.

Natürlich schliessen der Regisseur Jens-Daniel Herzog, sein Ausstatter Mathis Neidhart und der Dirigent Ingo Metzmacher mit Hans Pfitzners berühmtester Oper bewusst an ihre Schreker-Arbeit an, und zu Recht. Denn weit mehr als die Ähnlichkeit der Protagonisten verbindet die beiden Werke und ihre Schöpfer: Schreker wie Pfitzner waren späte Romantiker, beide betätigten sich in der Nachfolge Wagners als ihre eigenen Librettisten, beide konnten sich nur knapp am Rand des Repertoires halten - wobei das bei Pfitzner auch politische Gründe hatte. Bis zu seinem Tod 1949 hielt er an seinen antisemitischen Überzeugungen und seiner Bewunderung für das Dritte Reich fest. Dass er von den Nationalsozialisten dennoch nie wirklich geschätzt worden war, mag ihn geschmerzt haben (verbindet ihn aber noch einmal mit Schreker).

Applaus für Metzmacher

Pfitzner hatte «Palestrina» allerdings schon 1915 vollendet, noch vor seiner nationalistischen Phase. Und es geht darin nicht um Politik, sondern um den Renaissance-Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina, der der Legende nach einst die Mehrstimmigkeit gerettet hatte mit einer Messe, die so schön war, dass sie den strengen Geistlichen beim Tridentiner Konzil die Idee austrieb, nur noch einstimmige Musik zuzulassen.

1917 wurde das Werk in München uraufgeführt, im gleichen Jahr wurde die Produktion auch in Zürich gezeigt. Schon damals war den Zuschauern klar, wie sehr sich Pfitzner mit seinem Palestrina identifizierte: Auch er sah sich als verkannter Retter einer Musik, bei der er den Zustand der «Zersetzung» diagnostizierte. Dass er dennoch weit mehr war als ein Epigone des bewunderten Richard Wagner, das betont Ingo Metzmacher schon seit längerem und nun auch bei dieser Oper wieder (und man kann nicht anders als noch einmal zu bedauern, dass dies zumindest bis auf weiteres seine letzte Zürcher Premiere war). Unter seiner ebenso leidenschaftlichen wie durchdachten Leitung führt das Orchester der Oper vor, wie kraftvoll und komplex diese Partitur ist, wie reich an Farben und Tonfällen, wie souverän im Spiel mit aktuellen und archaisierenden Stilen.

Das fällt umso mehr auf, als die Welt dieses Palestrina grau ist: Als «alter, todesmüder Mann am Ende einer grossen Zeit» fühlt er sich, sinnlos ist ihm alles, das Leben wie der Tod und die Kunst erst recht. Sein Schüler Silla (Judith Schmid) macht sich mit jugendlichem Elan und ebensolchem Mezzosopran auf nach Florenz, wo gerade die Erfindung der Oper vorbereitet wird. Und nicht einmal die Drohungen des Kardinals Borromeo mögen ihn dazu bewegen, die verlangte Messe zu komponieren.

Aber dann erscheinen ihm seine tote Frau und die alten Meister, die ihn zur Vollendung seines «Erdenpensums» aufrufen. So schreibt er am Ende des ersten Aktes die Messe doch - und Roberto Saccà, der Palestrinas Depression zuvor mit gekonnt gedämpftem Tenor fast unerträglich real dargestellt hatte, findet im Einklang mit den inspirierenden Stimmen aus dem Jenseits zum fulminanten Jubel zurück.

Es könnte das Happy End dieser Oper sein. Aber es folgen noch zwei weitere Akte und zunächst einmal das Tridentiner Konzil: Hier kulminieren die Schwierigkeiten eines Stücks, in dem es nicht um Liebe oder Machtspiele oder sonstige operngemässe Dinge geht, sondern um theologische und musiktheoretische Fragen, die von Dutzenden von Geistlichen debattiert werden. Also ausschliesslich von Männern, die man leicht durcheinanderbringen kann, wenn der Regisseur nicht aufpasst.

Konzil in der Witwerwohnung

Jens-Daniel Herzog hat aufgepasst, und er hat mit einem hoch motivierten Ensemble aus der Darstellung des Konzils ein Bravourstück gemacht, das die satirische Vorlage nur leicht überdreht (was ihm zuletzt trotzdem ein paar Buhs eingetragen hat). Das Konzil findet hier in Palestrinas ziemlich karger Witwerwohnung statt, die Mathis Neidhart auf der Drehbühne eingerichtet hat. Die geistlichen Herren rasieren sich vor Palestrinas Spiegel, sie lesen Heftli auf der Toilette und bekreuzigen sich, bevor sie in ein Wienerli beissen. Und sie singen und spielen dabei denkbar charakteristisch: Martin Zysset mit seinem schlaumeierischen Übereifer, Oliver Widmer als eitler Intrigant oder Rudolf Schasching, der sich noch rasch ein Ei in den Mund stopft, bevor er zu singen hat. Auch Thomas Jesatko als je nachdem autoritärer oder zerknirschter Kardinal Borromeo, der die Kunst und junge Priester liebt, hat einen starken Auftritt.

Herzog hat hier sehr genau auf die Musik gehört, auf ihren Wechsel zwischen salbungsvollen, majestätischen und gewalttätigen Klängen. Im letzten Akt dagegen distanziert er sich von der Vorlage. Eigentlich wäre da Palestrinas Triumph vorgesehen - aber der verkommt zur reinen Scharade.

Alles nur Täuschung

Die Sänger, die vom Erfolg der Messe berichten, sind von Palestrinas Sohn Ighino engagiert, die «Evviva»-Rufe kommen nicht von der Strasse, sondern ab Schallplatte, und der «Papst», der Palestrinas Rehabilitierung verkündet, liest seinen Text vom Karton, den Ighino ihm hinter Palestrinas Rücken hochhält.

Die Regie-Idee lässt Ighino, rührend kindlich gesungen von Martina Jankovà, weniger altklug erscheinen als im Original. Am Ausgang der Oper ändert sie dagegen wenig. Denn der Erfolg der Messe, sei er nun echt oder vorgetäuscht, ist Palestrina egal. Es ist alles sinnlos, sowieso. Die grosse Zeit ist vorbei. Der grosse Applaus kann losgehen.

Regisseur Herzog hört genau auf die Musik, ihren Wechsel zwischen salbungsvollen und gewalttätigen Klängen.