Auch die Bischöfe haben nur die Diäten im Kopf

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (12.12.2011)

Palestrina, 10.12.2011, Zürich

Wer Hans Pfitzner auf den Programmzettel setzt, geht bewusst das Risiko des negativen Echos ein, was in erster Linie mit Pfitzners starrem Festhalten am nationalsozialistischen und vor allem antisemitischen Gedankengut nach 1945 zusammenhängt. Erst in zweiter Linie steht auch der an der Tradition festhaltende Komponist in der Kritik.

Der deutsche Dirigent Ingo Metzmacher unterscheidet zwischen dem Komponisten und dem Menschen Pfitzner unterscheiden und stellt seine Werke immer wieder zur Diskussion. Er dirigiert auch die Zürcher Neuproduktion, die klanglich geradezu ideal austariert ist. In den Vorspielen zum ersten und dritten Akt weiß er den spätromantischen Duktus zu betonen, während er beim Auftauchen der Erscheinungen, der verstorbenen Frau und der Engelsstimmen das Irreal-Traumhafte im melodiösen Fluss hervorhebt. Die Musiker bestechen auch beim hektischen Treiben am Konzil mit präzisem und akkuratem Spiel, das hell und an keiner Stelle überhöht pathetisch wirkt.

Aber wie bringt man heute Pfitzners Künstlerdrama um den Komponisten Palestrina, der vom Konzil von Trient den Auftrag erhält, eine Messe zu komponieren, auf die Bühne? Eine Messe, die beweisen soll, dass Figuralmusik in der katholischen Messe vom Glauben nicht ablenkt.

Jens-Daniel Herzog, der im nächsten Sommer in Salzburg die neue „Zauberflöte“ inszenieren wird, erzählt die musikalische Legende als Traum eines alternden Tonsetzers, der seit dem Tod seiner Frau nichts mehr komponiert hat. Roberto Saccà gibt ihn darstellerisch wirkungsstark und mit gereifter, metallischer Stimme. Dass Palestrina einer ist, der wie Pfitzner selbst an der Tradition hängt, symbolisiert das sechziger Jahre-Interieur seiner Wohnung. Dort spielt die ganze Oper: Den Auftrag zur Messkomposition durch seinen Freund Kardinal Carlo Borromeo (elegant phrasierend Thomas Jesatko) erhofft sich Palestrina nur im Traum. Die musikalische Gegenwelt repräsentiert sein Schüler Silla (überzeugend Judith Schmid) schon äußerlich mit seinem Outfitund. Er trinkt Red Bull und trägt einen Tramper-Rucksack.

Das Konzil von Trient ereignet sich in Palestrinas Wohnung wiederum als Traum. Mathis Neidhart hat die Räume auf der Drehbühne angeordnet. Hier checken Kardinäle, Bischöfe und Abgesandte des Kaisers – ein Lob auf das Ensemble – für eine wichtige Konferenz ein, unterziehen sich der Sicherheitskontrolle und erhalten mittags ein Lunchpaket. Herzog interessiert sich für ihre menschlichen Züge und Bedürfnisse: Während Palestrina sich in der Küche sein Frühstück bereitet, stillen der taktierende Kardinallegat Novagerio (grossartig Rudolf Schasching) und Fürstbischof Madruscht (röhrend Alfred Muff) ihren großen Hunger, wird der zweite Kardinallegat Morone (Martin Gantner voll im Ton) nach einem Schäferstündchen mit einem jüngeren Kollegen erwischt. Selbst die intimsten Bedürfnisse spart Herzog nicht aus. Graf Luna (Oliver Widmer mit kerniger Frische) entpuppt sich als eitler Geck, der sogar sein Kettler-Rad mitgebracht hat, um fit zu bleiben. Dass es bei ähnlichen Veranstaltungen meist nicht nur um hehre Ziele, sondern auch den eigenen Vorteil geht, zeigt sich im Bischof von Budoja (Martin Zysset): Zu sagen hat er wenig im Plenum, aber wenn es um die Diäten geht, dann spricht er Klartext.

Damit Palestrinas Traum kein reales Ende findet, inszeniert sein Sohn Ighino (klangschön und füllig Martina Janková) den Erfolg der neuen Komposition. Die Eviva-Rufe liefert die Schallplatte, der Papst und seine Getreuen sind bezahlte Komparsen. Die Anleihe bei der erfolgreichen Filmtragikomödie „Goodbye Lenin“ von Wolfgang Becker ist zwar offensichtlich, gewährleistet aber die Glaubwürdigkeit der Legende im versetzten zeitlichen Umfeld. Palestrina ahnt nichts Böses, sondern verfällt nach Abzug des Papstes mit seinem Gefolge noch einmal ins Träumen, bevor er die Pistole für den Kopfschuss ansetzt – und wieder sinken lässt: scheinbar liegt ihm die Gesellschaft, von der er sich unverstanden fühlte, ja jetzt vor den Füssen..

So schwer verdaulich „Palestrina“ heute erscheint: Jens-Daniel Herzog hat einen glaubhaften Weg gefunden, um die Frage zum Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft zeitgemäss zu stellen und die werkimmanente Absage an die aggressive Moderne zu begründen.