Neues Leben in Ruinen

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (24.01.2012)

Die Meistersinger von Nürnberg, 22.01.2012, Zürich

«Die Meistersinger von Nürnberg» von Wagner im Zürcher Opernhaus

Pfitzners «Palestrina», Wagners «Meistersinger von Nürnberg», Hindemiths «Mathis der Maler»: Mit den drei Künstleropern setzt das Zürcher Opernhaus in der letzten Spielzeit der Ära Pereira einen starken thematischen Akzent. Die «Meistersinger» sind das populärste, zugänglichste und heiterste der drei Schwergewichte, und die Regie des Altmeisters Harry Kupfer unterstreicht dies, obwohl der Bühnenbildner Hans Schavernoch auf putzige Nürnberger Häuser und Festwiesenbombast verzichtet. Alle drei Akte spielen in den Ruinen einer gotischen Kirche. Doch die Mauerreste werden restauriert, über der Nürnberger Stadtsilhouette ragen im zweiten Akt Krane, im dritten Akt Wolkenkratzer in den Himmel. Nur die Kostüme (Yan Tax) bleiben konsequent der Mode der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts verpflichtet.

Sanfte Erneuerung

Nein, ganz ausblenden will Kupfer die Vereinnahmung des Werkes durch die Nazi-Ideologie und deren rezeptionsgeschichtliche Folgen nicht. Schavernochs Bühne signalisiert indessen, dass nun Erhaltung des Überkommenen und (sanfte) Erneuerung angesagt sind – und illustriert damit auch Kupfers Interpretationsansatz. Wenn Hans Sachs am Schluss die deutschen Meister preist, verneigt er sich vor Tilman Riemenschneiders unverfänglichem Johannes dem Täufer. Für diese szenische Lesart hat man in Kauf zu nehmen, dass der zwischen eingerüsteten Mauern spielende Akt etwas ortlos wirkt und der karnevaleske Einzug auf der Festwiese chaotisch – ein Wunder, dass die Scharen von Chorsängern auf der rotierenden Drehbühne den Weg zu ihren Plätzen auf den Gerüstpodien und Tribünen finden, wo sie dann allerdings einen imposanten sängerischen Auftritt (Choreinstudierung Ernst Raffelsberger) haben.

So souverän und elaboriert Harry Kupfer all die Bürger und Frauen, Gesellen, Lehrbuben und Mädchen ins Geschehen einbindet, seine Meisterschaft erweist sich darin, wie er die Handlung auf die einzelnen Figuren und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen fokussiert. Leitinstanz ist dabei Hans Sachs, der Schusterpoet, der zwischen Kunst und Handwerk, Tradition und Erneuerung, aber auch zwischen den Generationen vermittelt. Dass für diese Partie Michael Volle zur Verfügung steht, ist ein Glücksfall. Denn mit seinem opulent strömenden, dabei ungemein beweglichen und nuancenreichen Bariton, seiner imposanten Gestalt und seiner sprechenden Mimik verkörpert er einen Sachs, der mitten im Leben steht, überlegen zwar, aber keineswegs milde, durchaus denkbar als Werber Evas, die nach dem Gebot ihres Vaters Pogner einzig einen Meistersinger ehelichen darf.

Die ambivalente, fluktuierende Beziehung zwischen Sachs und Eva, die sich Hals über Kopf in den jungen Ritter Stolzing verliebt, aber den väterlichen Freund in Reserve hält, erlebt man in der Zürcher Inszenierung besonders intensiv, denn auch Juliane Banse ist eine subtile Darstellerin, temperamentvoll, spontan, ein wenig hinterlistig auch und mit einer leicht ansprechenden Sopranstimme von apartem Timbre, die jedoch im Quintett des dritten Aktes eher gequält denn glückstrahlend klingt. Ein schwieriges Rollendebüt absolviert Roberto Saccà als Walther von Stolzing. Eben noch ein ergreifender greiser Palestrina, soll er jetzt als genialischer Dichter, leidenschaftlicher Liebhaber und strahlender Ritter die Welt der biederen Nürnberger Bürger und Meister aus den Fugen heben. Dass Saccà in der Wagner-Partie nicht ganz reüssiert, liegt nicht nur daran, dass sein kehliger Tenor bei aller Kultiviertheit etwas matt klingt, auch in seiner äusseren Erscheinung wirkt dieser brav gekleidete Stolzing zu unscheinbar, zu angepasst. Bei Beckmesser hingegen sind Korrektheit und Angepasstheit Lebensdevise – mit welch fatalen, ja tragischen Folgen, das macht der Bariton Martin Gantner als hochdifferenzierter Sänger wie als suggestiver Darsteller auf unübertreffliche Weise anschaulich.

Die Besetzungsliste von Richard Wagners «Meistersingern» ist lang, stimmliche Schwankungen scheinen unvermeidlich, doch dank Kupfers sorgfältiger Personenregie erhält jede Figur ihr eigenes Profil. So ist Peter Sonn als David ein Schuster-Lehrbub, der die Erhebung in den Gesellenstand mit seinem durchschlagskräftigen, gut fundierten, in der Höhe manchmal etwas forcierenden Tenor und seinem agilen Spiel durchaus verdient. Wiebke Lehmkuhls Magdalene ist ihm eine stimmlich äusserst attraktive Partnerin, der man den Rollentausch mit Eva während Beckmessers peniblen Ständchens durchaus abnimmt. Und einmal mehr beeindruckt der Bassist Matti Salminen als tief menschlicher Pogner mit seiner in sich ruhenden Autorität.

Aufgelichteter Klang

Doch weder die insgesamt unauffällige Regie noch die Sängerbesetzung gibt in dieser Neuproduktion den Ton an, vielmehr ist es das Orchester unter seinem Chefdirigenten Daniele Gatti, welches für eine ganz eigenständige Lesart des Werkes sorgt. Und sie sind es letztlich, die die «Meistersinger» als helles, heiteres Werk kenntlich machen. Gatti versteht es, die Musik zu verlebendigen, indem er sie fliessen lässt, die Melodieführung betont, einen warmen, satten, doch nicht schweren Klang pflegt, die Tempi kaum merklich modifiziert, immer wieder einzelne Stimmen hervorholt. Mit dieser Einstudierung scheinen sich das Orchester und sein Chef auf Zeit ganz gefunden zu haben.