Das Leben aus den Ruinen

Herbert Büttiker, Der Landbote (24.01.2012)

Die Meistersinger von Nürnberg, 22.01.2012, Zürich

Das Lob der «heil’gen deutschen Kunst» kann grösser nicht sein: Die Meistersinger der grossen Wagner-Oper wurden an der Premiere bejubelt – vom Publikum im Saal noch mehr als auf der Bühne, wo die Kriegsruine zur Festdekoration mutierte.

Auf der Festwiese triumphiert der fränkische Ritter Walter von Stolzing, der den biederen Meistersingern den Meister zeigt und im Wettsingen Eva für sich gewinnt. Das Nachsehen hat Meister Beckmesser. Der Pedant macht sich vor dem Nürnberger Volk mit seinem im wörtlichen Sinn erbärmlichen Auftritt zum Gespött, nachdem ihm schon das Ständchen vor Evas Fenster in der Nacht zuvor gründlich misslang – woran nicht nur die magere künstlerische Potenz und psychische Überforderung, sondern auch spielverderberische Aktivitäten des berühmten Meisters Hans Sachs schuld waren.

So monumental Wagner in der 1868 in München unter der Protektion des bayrischen Königs uraufgeführten Oper «das Kunstwerk der Zukunft» (und sich selber) feiert, so quälend intensiv zelebriert er die Abstrafung des Versagers. Harry Kupfer aber, der Regisseur der neuen Zürcher Inszenierung, ist milde und lässt Beckmesser und Sachs am Ende mit einem Handschlag gute Miene zum bösen Spiel machen. Milde zeigt die Inszenierung auch grundsätzlich im Verhältnis zu einem Werk, das die «heil’ge deutsche Kunst» nicht unproblematisch gegen den «welschen Tand» setzt, das in der Negativfigur Beckmessers eine Judenkarikatur vermuten lässt und mit solchen ideologischen Hintergründen eine auch unrühmliche Karriere als Festoper der Nationalsozialisten machte.

Die zerbombte Singschule

Die erklärte Absicht, das Stück aus diesen Zusammenhängen herauszuhalten, haben Kupfer und sein Team mit Hans Schavernoch (Bühne), Yan Tax (Kostüme) und Derek Gimpel (Choreografie und szenische Mitarbeit) nun freilich auf eine trotzige Weise realisiert: Sie situieren die Handlung ausgerechnet in die Zeit nach 1945 und lassen sie in den Ruinen des Nürnberger Dominikanerklosters spielen, das nach der Säkularisation im 16. Jahrhundert den Meistersingern als Singschule diente und 1945 bei einem Luftangriff zerstört wurde.

In der Kirchenszene zu Beginn der Oper wird Geld für die Renovation gesammelt. Die Silhouette im Hintergrund der Bühne zeigt im ersten Akt die ausgebombte Stadt, im zweiten Akt markieren Kräne den Wiederaufbau und im dritten der Kranz der Hochhäuser die Früchte des Wirtschaftswunders. Und wenn jetzt zu Wagners Festmusik die Klosterruine gleichsam mittanzt – dazu verhilft die Drehbühne –, gesellt sich dazu auch das Wunder des Vergessens. Zwar bleibt die Ruine, aber in ihrem Licht und ihrer Leichtigkeit perfekt gelungen scheint die Renovation der von manchen kritischen Inszenierungen ramponierten Oper – und dies um so mehr und um so beunruhigender, als die Inszenierung selber perfekt gelungen ist.

Johannistag

Kupfer erweist sich nämlich hier wieder als Meister der erzählerischen Präzision, der realistischen Charakterisierung grosser wie kleiner Rollen und der Lebendigkeit der Bewegung der Massen. Hinzu kommen Zeichensetzungen mit grosser Klammerwirkung. Eva und der Schuh sind schon in der ersten Szene ein Thema, und wenn Hans Sachs am Ende die Statue von Johannes dem Täufer enthüllt und vor ihr den Dichterkranz niederlegt, ist in einem überraschenden szenischen Moment der in der ganzen Oper präsente religiöse respektive kunstreligiöse Kontext – es geht um Johannistag, den Namenstag von Hans Sachs und die Taufe eines neuen Kunstwerks – auf den Punkt gebracht: die Heiligsprechung der (wagnerschen) Kunst und des Künstlers.

Wir haben es mit einem in solcher Fragwürdigkeit grossen Abend zu tun: Dazu trägt ein magistrales En­sem­ble das Seine bei, und zu Recht galt der Jubel an der Premiere in nur leichten Abstufungen allen Beteiligten – gerade auch Beckmesser, den Martin Gantner stimmlich souverän und physiognomisch genau, weit über die Karikatur hinaus als Menschen zeichnet, der hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und noch weiter zurückgeworfen wird.

Den ganz grossen Erfolg feiern konnte Michael Volle, der an diesem Abend zum ersten Mal nicht als Beckmesser, sondern als Hans Sachs auf der Bühne stand: als Poet und Schuster ohne weiss umwölktes Haupt und ohne Bassgebrumm. Mit kerniger Stimme, vital und trotzig, ringt er sich den Verzicht ab und gewinnt er die Souveränität, die Anlass zur Huldigung wird – das ist ungewöhnlich, spannend und, mit nur wenigen Anzeichen von Ermüdung in der riesigen Partie über die drei Akte, imponierend bewältigt.

Dass der Witwer Sachs Evas erste Wahl ist, bis sie dem Junker begegnet, verwundert unter diesen Voraussetzungen nicht, und entsprechend hat es Juliane Banse leicht, Evas aktive, vorsichtig selbstbewusste Rolle wahrzunehmen. Ge­gen­über dem Vater (Matti Salminen mit wahrhaft paternalistischer Statur) mag sie das brave Töchterchen spielen, aber in der Frage ihrer Zukunft unternimmt sie, was sie kann: Dazu gehört ein strahlendes Gesicht, die immer auch neckische Verlegenheit, aber auch viel Impulsivität – alles, was Juliane Banse auch in ihre Stimme legen kann, die allerdings im heikelsten Moment – das Quintett im dritten Akt – auch irritierend ermattet wirkte. Mit Roberto Saccà als Walther hat sie einen Partner, der umgekehrt erst in den grossen tenoralen Aufschwüngen die Reserve ins Spiel bringt, die in der zurückhaltenden Figur die heldische Leidenschaft so richtig glänzen lässt. Da überspielt er dann imponierend die Frage, wer denn dieser Junker sein sollte, der hier die biederbürgerliche Nachkriegsgesellschaft erobert, indem er sich herablassend auf ihre Spielregeln einlässt.

Der grosse Aufmarsch

Ein ebenso breites wie gediegenes Aufgebot des Opernhauses repräsentiert diese Bürgerwelt. Das Dutzend der honorigen Meistersinger füllt sich mit einer Palette wackerer bis skurriler Gestalten. Herausragend gestaltet Peter Sonn den Lehrbuben David, liebenswürdig und frisch im Spiel auch mit Magdalene (Wiebke Lehmkuhl). Ihm gelingt das grosse Kunststück, mit sängerischem Können die weitschweifigen Erklärungen der Tabulatur zum Hörgenuss zu machen. Die Chöre sind auf der Festwiese («Wach auf»!) mit opulenter Klangwirkung präsent, und die Menge von Statisten und Artisten ergänzen den grossen, bunten Aufmarsch.

Wie die fast sechsstündige Aufführung im Fluss bleibt und hier ins Grosse mündet, ist auch einer imponierenden Leistung des Orchesters zu verdanken, das nur minime Unsicherheiten, aber viel klangliche Souplesse im intimen Stimmmungszauber und sinfonisch strömende Entfaltung hören lässt. Auffallend weich artikuliert gleich zu Beginn das Blech und setzt damit die Zeichen für Daniele Gattis Dirigat, das geschmeidiges Musizieren der pathetischen Schwere und forcierten Effekten vorzieht und sich dem manchmal ja auch ausufernden Reichtum der Partitur inspiriert und inspirierend überlässt.