Sigfried Schibli, Basler Zeitung (24.01.2012)
Zürich und Freiburg im Breisgau zelebrieren höchst unterschiedlich Wagners «Meistersinger» und «Lohengrin»
Nicht nur wegen ihrer aussergewöhnlichen Länge und der ausufernden Personenanzahl sind «Die Meistersinger von Nürnberg» das am seltensten aufgeführte Musikdrama von Richard Wagner. Es sind auch textliche Gründe, die uns diese musikalisch so herrliche Parabel um alte Regeln und neue Kunst suspekt erscheinen lassen. Vor allem die Hauptfigur des Hans Sachs verursacht einem Kopfschmerzen – ist er doch zugleich Sympathieträger und Verfechter einer «deutschen und wahren Kunst», die sich dem «welschen Dunst und welschen Tand» widersetzt. «Ehrt Eure deutschen Meister»: Da kann einem braun vor den Augen werden.
In den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche, das Stück mit seiner offen nationalistischen Botschaft aufzubrechen und zu zeigen, wohin diese Haltung geschichtlich geführt hat: in den Rassenwahn des Nationalsozialismus. Am weitesten gingen darin die Regisseure Peter Konwitschny in Hamburg und Katharina Wagner in Bayreuth. Und man war gespannt, wie Harry Kupfer, der langjährige Chef der (damals noch) Ost-Berliner Komischen Oper und fraglos einer der kritischsten Opernmacher der Gegenwart, am Opernhaus Zürich mit dem Aufführungsproblem der «Meistersinger» zurechtkommt.
Neu contra Alt
Die Antwort ist seit Sonntag zu begutachten, und sie ist eine nicht geringe Überraschung. Kupfer und sein langjähriger Bühnenbildner Hans Schavernoch interpretieren das Stück im Grunde gar nicht, sie stellen es mitsamt den Überresten eines alten sakralen Bauwerks so auf die Bühne, als gäbe es das ideologische Problem «Meistersinger» nicht. Ein bisschen modern in den Kostümen und im Bühnenhintergrund wie schon 1988 in Harry Kupfers Bayreuther «Ring des Nibelungen» von Akt zu Akt in die Gegenwart führend. Ansonsten aber ohne erkennbare These, ohne Aktualität, auch ohne Provokation.
Am Ende huldigt ganz Nürnberg inklusive Hans Sachs einer Dürer-Skulptur – so wenig ist übrig geblieben vom Wagner-Slogan «Schafft Neues, Kinder!» Wenn man die Inszenierung nicht einfach für einfallslos halten will, dann ist sie eine Bankrotterklärung der Stücktendenz, die ja auf Innovation und nicht auf Konservierung der alten Werte hinausläuft. Eine Deutung, die Hans Sachs und die ganze Meistersinger-Riege zu heil- und hoffnungslosen Traditionalisten erklärt.
Gesang und Szene
Dem Premierenpublikum gefiel solcher Konservativismus, auch weil er mit vorzüglichem Gesang gekoppelt ist. Rollendebütant Michael Volle ist ein exzellenter Schuster Sachs, textdeutlich und differenziert. Der Meistersinger-Anwärter Walter von Stolzing von Roberto Saccà klingt tenoral etwas kehlig, steht die grosse Partie aber souverän durch. Matti Salminen als Pogner ist eine verlässliche Grösse, was auch für Martin Gantner als nicht übertrieben lächerlich gezeigten Beckmesser gilt.
Von den Sängern musste nur die Eva von Juliane Banse eine stimmliche Schwächephase überstehen. Chöre und Orchester unter Daniele Gattis Leitung musizierten in der Premiere nicht immer perfekt koordiniert, aber in jeder Sekunde engagiert. Der zwiespältige Eindruck, den Opernhaus-Chefdirigent Gatti im Zürcher «Parsifal» im Juni 2011 hinterlassen hatte, wiederholte sich hier jedenfalls nicht.
Dass auch Theater mit weit geringerem Budget als das Zürcher Opernhaus eine ganze Wagner-Oper mehr als nur anständig auf die Bühne bringen können, zeigt das Theater in Freiburg im Breisgau. Dort hat man in den letzten Jahren schon den kompletten «Ring des Nibelungen» gestemmt – Regie Frank Hilbrich, Bühnenbild Stefan Heyne, Dirigent Fabrice Bollon. Dasselbe Team hat sich jetzt «Lohengrin» vorgenommen, und es war zu erwarten, dass es das Stück nicht auf ein romantisches Märchen-Mittelalter zurückbuchstabieren würde.
Nicht erwarten konnte man, dass die Handlung in eine riesige Bibliothek verpflanzt wird, in der Friedrich von Telramund (mit Ausdauer und baritonaler Fortune: Neal Schwantes) als grauer Bürokrat und der König (Jin Seok Lee) offenbar als Bibliotheksleiter tätig ist. Bücher bestimmen die Optik des Ganzen. Lohengrin – der stimmlich eher lyrisch-weiche, schauspielerisch bewegliche Christian Voigt – erschlägt Telramund mit einem Buch, nachdem die beiden schon mit Büchern anstatt mit Schwertern aufeinander losgegangen sind.
Schwan und Spiegel
Elsa von Brabant ist in der Verkörperung durch Christina Vasileva als jugendlich-aufmüpfige, unentwegt mit Spiegelscherben hantierende Rote Zora gezeichnet – stimmlich wird sie hohen Ansprüchen vor allem auch an die Textverständlichkeit gerecht. Auch sie lebt mit und in Büchern: Immer wieder versenkt sie sich in das grosse Buch mit dem Bild vom Schwan, das vom Himmel gefallen ist, während gleichzeitig der Erlöser Lohengrin auf der Bühne erschien. Mit der Bücherzerstörung kommt die Barbarei in die Welt – ein deutsches Trauma.
Nur Gottfried von Brabant, der aus einem Schwan zurückverwandelte Thronfolger, ist keine Bilderbuchfigur, sondern ein leibhaftiger Blondschopf, über dessen Anblick seine Schwester Elsa tot zusammenbricht. Und die neue Religion, die am Brabanter Hof ausbricht, stützt sich nicht auf eine heilige Schrift, sondern auf die Idee des Vogeleis, mithin auf ein Stück veritabler Natur. Im dritten Akt wird sogar ein echtes Federvieh auf die Bühne bemüht, womit die Inszenierungsidee «aus Unbehagen an der Kultur zurück zur Natur» fast überdeutlich wird.
Orchestral wie sängerisch braucht die szenisch anregende, im guten Sinn unbequeme Freiburger Produktion keinen Vergleich zu scheuen, was dem viereinhalb Stunden ausharrenden Premierenpublikum offenbar nicht entgangen ist. Zürich ist sehenswert, aber Freiburg ist spannender.