Märtyrer als Widerstandskämpfer

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (08.05.2012)

Poliuto, 06.05.2012, Zürich

Donizettis «Poliuto» als Schweizer Erstaufführung am Opernhaus Zürich

«Poliuto»? Diese Oper fehlt in den gängigen Opernführern und ist bisher in der Schweiz noch nie gespielt worden. Dabei war Gaetano Donizetti, als er «Poliuto» im Jahr 1838 komponierte, beileibe kein Greenhorn mehr. Immerhin hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits «L'elisir d'amore», «Lucrezia Borgia» und «Lucia di Lammermoor» herausgebracht. Das Opernhaus Zürich kann sich also einer Pioniertat rühmen, wenn es nun, als drittletzte Neuproduktion in der Ära Pereira, die Schweizer Erstaufführung von «Poliuto» gewagt hat. Anders als bei den wenig geglückten Wiederbelebungsversuchen von «Le convenienze ed inconvenienze teatrali» und «I pazzi per progetto», den beiden Operneinaktern Donizettis, im vergangenen Dezember hat sich die Tat bei «Poliuto» gelohnt. Die Musik dieser Oper ist bester Donizetti, von Nello Santi am Dirigentenpult effektvoll dargeboten. Der Wurm steckt eher in der Handlung, die der Regisseur Damiano Michieletto in einer durchaus schlüssigen Sicht in die heutige Zeit verlegt.

Widersprüche

«Poliuto» ist ein Märtyrerstück. Es spielt um das Jahr 250 in Armenien, einem Teilgebiet des römischen Weltreichs. Die Römer verfolgen die Christen, da sie in ihnen eine Bedrohung ihres Jupiterkults und damit ihrer Staatsmacht sehen. Poliuto, ein hochrangiger armenischer Beamter, lässt sich zu Beginn der Handlung taufen, macht sein Bekenntnis öffentlich und stirbt am Schluss den Märtyrertod. Natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte, und darin liegt die Problematik des Stücks begraben. Paolina, Poliutos Ehefrau, war einst mit Severo verlobt. Der Totgeglaubte kehrt nun zurück, und zwar ausgerechnet in der Rolle des römischen Prokonsuls, der die Christenverfolgungen, zusammen mit dem Jupiter-Hohepriester Callistene, durchsetzen muss.

Poliuto ist Tenor, Severo Bariton. Von den Stimmlagen her müsste das Liebespaar also Paolina – Poliuto heissen. Musikalisch stattet aber Donizetti Paolina und Severo mit allen Insignien des Liebespaares aus, beispielsweise mit dem herzzerreissenden Duett im zweiten Akt. Infolgedessen gerät der Zuschauer in einen Identifikationskonflikt und kann es nicht fassen, dass sich Paolina am Schluss ebenfalls bekehrt und mit Poliuto als Märtyrerin sterben will.

Damiano Michieletto kann diesen Widerspruch nicht beseitigen. Ihn interessieren nicht primär die Liebesverstrickungen, er blickt mehr auf den gesellschaftlichen Aspekt von «Poliuto». So verlegt er die Oper in die heutige Zeit, deutet die Römer als diktatorische Staatsmacht, die Christen dagegen als Widerstandskämpfer. Der Chor bildet die gleichgeschaltete Masse, die auf Befehl nickt oder zuschlägt. Carla Teti steckt sie in die Einheitsgewänder von Zwangsarbeitern, Diplomanden oder Ärzten. Auf der von Paolo Fantin entworfenen Bühne ist diese Masse fast immer präsent, meistens auf einer Tribüne, die gleichzeitig das Tribunal darstellt. Verlangt es der Drahtzieher Callistene, wird sie zum Mob, etwa wenn Nearco, der Christenführer, mit brutaler Gewalt zusammengeschlagen wird. Das sind starke und unbequeme Bilder, für die das Regieteam am Schluss zahlreiche Buhrufe einstecken musste. Zu Unrecht.

Musikalische Mischversion

Nello Santi hat sich bei der Zürcher Produktion für eine musikalische Mischversion entschieden, die neben der erst 1848 in Neapel uraufgeführten italienischen Fassung auch Teile der französischen, als «Les martyrs» bereits 1840 in Paris aus der Taufe gehobenen enthält. Dazu gehört etwa die Ouvertüre mit dem aussergewöhnlichen Klang von vier Fagotten. Dass Altmeister Santi «Poliuto» zum allerersten Mal in seiner langen Karriere dirigiert, ist ihm nicht anzumerken. Sicher wie immer, mit klarer Zeichengebung und untrüglichem Instinkt für den italienischen Belcanto-Stil führt er das Orchester der Oper Zürich durch die Klippen der Partitur, auch wenn sich am Premierenabend noch die eine oder andere Ungereimtheit einschleicht.

Bei den sängerischen Besetzungen sind mit Ausnahme von Fiorenza Cedolins lauter Rollendebüts zu vermelden. Die italienische Sopranistin hat als Paolina die kaum lösbare Aufgabe, ihre Emotionen vom Geliebten zum Ehemann zu lenken, was nicht bruchlos gelingt – auch, weil Massimo Cavalletti als Prokonsul Severo über einen betörenden Bariton verfügt und trotz seiner kriegsbedingten Behinderung alle Register zieht, um die verlorene Geliebte wiederzufinden. Massimiliano Pisapia verkörpert die Titelrolle des Poliuto mit einer gewissen Distanziertheit, aber mit absoluter Geradlinigkeit. Sein Tenor hat Strahlkraft, neigt aber in der Höhe zur Verhärtung. Eine eindrucksvolle und abschreckende Figur ist der durchdringende Bass von Riccardo Zanellato, der als machtgieriger Hohepriester über Leichen geht. Ganz in seiner Opferrolle geht Jan Rusko als Nearco auf. Er und die übrigen zum Tod verurteilten Mitchristen plädieren für eine humanere Welt, die sich der herrschenden repressiven Zivilisation entgegenstellt. Der Regisseur Damiano Michieletto scheint allerdings nicht an diese Utopie zu glauben.