Oliver Schneider, DrehPunktKultur (18.04.2012)
Borodin, der sich nur in seiner Freizeit als Komponist betätigte und im „Brotberuf“ Chemiker war, hinterließ seine Oper „Fürst Igor“ bei seinem plötzlichen Tod 1887 als Fragment. Vollendet wurde es von Nikolaj Rimskij-Korsakow und Alexander Glasunow. Zwei Drittel dieser Partitur stammen nicht von Borodin, sondern von seinen beiden Kollegen, was geradezu nach einer kritischen Edition ruft.
1947 hatte bereits der sowjetische Musikwissenschaftler Pavel Lamm das gesamte von Borodin hinterlassene Material zusammengestellt. Grundlage für eine szenische Aufführung bildeten diese Forschungsergebnisse aber erst 1993 unter der musikalischen Leitung von Valery Gergiev am Mariinskij-Theater. Die musikalische Bearbeitung für das Opernhaus Zürich unter Heranziehung des Klavierauszugs von Pawel Lamm und auf der Grundlage von Gergievs Arbeit besorgte der britische Dirigent und Herausgeber David Lloyd-Jones unter Mitarbeit von Dimitri Smirnov, mit der vor allem Igor stärker in den Mittelpunkt gestellt wird.
David Pountney und sein Ausstattungsteam (Bühne: Robert Innes Hopkins, Kostüme: Marie-Jeanne Lecca) beschränken sich in der Zürcher Oper auf ein szenisches Minimum, um „Fürst Igor“ durch die Fokussierung auf die Solisten und den Chor als einen der Hauptprotagonisten (vorbildlich einstudiert von Jürg Hämmerli) als eine kritisch-historische Studie über Russland als Tor zum Orient zu zeigen. Die Niederlage gegen die von Khan Kontschak (mächtig orgelnd Pavel Daniluk) geführten Polowzer erlebt Igor (mit charaktervollem Bass Egils Silinš) gleich einem modernen Staatschef von seinem über weite Strecken in der Bühnenmitte platzierten Schreibtisch, von wo er auch mit ansehen muss, wie sich sein Sohn Wladimir (darstellerisch stark Peter Sonn, allerdings stark tremolierend) in Kontschakowna, die Tochter des Khans (mit verführerischem dunklem Mezzotimbre Olesya Petrova), verliebt. Die Polowzer sind bei Pountney gewaltbereite Extremisten, die heute die westliche Hemisphäre in Angst versetzen. Richtigerweise werden zum bekannten Hit der Oper, den Polowzer-Tänzen, die gefangenen Russen von den Polowzern brutal misshandelt (Choreographie: Renato Zanella).
Besonderes Augenmerk legt der britische Regisseur (bis 2013 auch Intendant der Bregenzer Festspiele) auf die gegensätzlichen Charaktere der beiden Fürsten, hier der vom Schicksal gezeichnete, eher introvertierte Fürst Igor, da der mächtig auftrumpfende Khan.
Aus dramaturgischen Gesichtspunkten sind die Akte eins und zwei umgestellt, was zwar zu einem zeitlichen Missverhältnis zwischen den Teilen vor und nach der Pause, aber zu einer Steigerung der Dramatik und zu einer deutlicheren Polarisierung der Handlungsorte führt. Denn während Igor sich mit seinem Sohn und dem Heer in den Händen seines Feindes befindet, richtet sein Schwager Fürst Galitzkij (Dmitry Belosselskiy, der in der nächsten Saison in Verdis „Attila“ im Theater an der Wien zu hören sein wird) in Putiwl eine Schreckensherrschaft ein, die bei Pountney in Zeiten des Realsozialismus angesiedelt ist.
Wenn Igor schließlich geschlagen in seine Heimatstadt Putiwl zurückkehrt, läuten die beiden Opportunisten Skula und Jeroschka (Valeriy Murga, Martin Zysset) die Glocken, und es senkt sich ein riesiges, goldenes Reiterstandbilds vom Schnürboden herab.
Unter Vladimir Fedoseyev bringt das Orchester des Opernhauses Zürich das facettenreiche Bild der originaleren Partitur klar zum Ausdruck. Schon in der Ouvertüre arbeitet Fedoseyev in Übereinstimmung mit dem reflektierenden Blick des Regisseurs vor allem die lyrischen Qualitäten des Werks heraus, was der durchsichtigen Stimmdurchdringung förderlich ist und die meist präzisen Holz- und Blechbläser deutlich zur Geltung kommen lässt. Die nötige Opulenz lässt er in den Chorszenen walten. Die Solisten halten das hohe Niveau. Nur für Igors Ehefrau Jaroslawna würde man sich eine weniger scharfe Stimme als jene von Olga Guryakova wünschen.