Der Türke in uns selbst

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (29.05.2012)

Die Entführung aus dem Serail, 26.05.2012, Zürich

Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» im Opernhaus Zürich

Eine Türkenoper versprach zur Zeit, als Wolfgang Amadeus Mozart sein Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» komponierte, grossen Erfolg. Janitscharenmusik, ein Pascha, ein Harem, ein Bösewicht als Haremswächter und eine fast gescheiterte Befreiung: Solche Elemente gingen unter die Haut. Die Belagerung Wiens durch ein riesiges Heer des Osmanischen Reiches lag zwar schon hundert Jahre zurück, aber für Nervenkitzel sorgte ein Stoff, der einen Blick auf die bedrohliche und gleichzeitig faszinierende fremde Kultur warf, noch allemal. Dazu kam im Zeitalter der Aufklärung das Gefühl der Überlegenheit der eigenen christlichen Kultur gegenüber derjenigen des Islams. Sieg von Menschlichkeit, Treue und Einehe über Unterdrückung und Vielweiberei – so musste das Publikum im Wien des Jahres 1782 Mozarts «Entführung» verstehen.

Psychische Extremsituationen

Bei der Neuproduktion der «Entführung aus dem Serail» am Opernhaus Zürich geht es nun aber nicht um die Türken. Der Bassa Selim erweckt in seiner weiten Türkenhose zwar gewisse einschlägige Assoziationen, und Konstanze tritt zu Beginn verschleiert auf (Kostüme: Florence von Gerkan). Aber man bekommt nicht eine einzige Haremsdame zu Gesicht, und Osmin, der Haremswächter, verbreitet selbst in seiner Arie «Zuerst gespiesst, dann gehangen» nicht den mindesten Schrecken. Auch das Bühnenbild von Jörg Zielinski verzichtet auf alles orientalische Kolorit.

Die gesprochenen Texte, die den Unterschied zwischen Europäern und Türken deutlich machen, sind weitgehend gestrichen. Der Regisseur Adrian Marthaler, der für den im Februar verstorbenen Thomas Langhoff einsprang, siedelt die Geschichte in der heutigen Zeit an und zeigt Menschen, die dem Publikum Identifikationsmöglichkeiten bieten. Belmonte und seine Konstanze, Pedrillo und seine Blonde sind bei ihm Gestrandete, die psychischen Extremsituationen ausgesetzt werden. Die Bühne stellt im ersten Akt denn auch einen Meeresstrand vor einer Mole dar. Die Gefahren kommen nicht von aussen, sondern entspringen dem Innern der Personen.

Den Angelpunkt von Marthalers Deutung bildet das Dreiecksverhältnis zwischen Belmonte, Konstanze und Bassa Selim. Im zweiten Akt – wir blicken auf die Dachterrasse eines mediterranen Hauses – singt Konstanze in ihrer Marterarie die Worte: «Nur dann würd' ich erzittern, wenn ich untreu könnte sein.» Gleichzeitig wehrt sie sich aber überhaupt nicht gegen die körperliche Annäherung des Bassa. Und als dann später Belmonte auftaucht, braucht Konstanze eine Weile, bis sie sich auf den wiedergefundenen Geliebten einstellen kann.

Pech hatte das Opernhaus mit der Besetzung der Konstanze, denn Malin Hartelius erlitt kurz vor der Premiere einen Stimmeinbruch. Über Nacht wurde mit der in Zürich bestens bekannten Eva Mei ein würdiger Ersatz herbeigezaubert. Bei der Premiere musste sich die Koloratursopranistin stimmlich und emotional zuerst etwas befreien, dann aber gelang es ihr ausgezeichnet, den von der Regie geforderten Rollencharakter zu verwirklichen. Der Belmonte von Javier Camarena gefällt primär im Gesanglichen mit einem hellen Tenor, den er nie zu forcieren braucht. In seinem Rollenverständnis wirkt er dagegen etwas eindimensional.

Viel Freude bereitet die Blonde von Rebeca Olvera, ein offener Charakter mit einer leuchtenden Stimme und eine selbstbewusste Frau, die ihren Wächter zum Pantoffelhelden umerzieht. Dieser, der Osmin von Alfred Muff, ist in der Differenz zwischen Wollen und Wirkung die personifizierte Lächerlichkeit, beeindruckt dafür umso mehr mit seinem gewaltigen Bass. Der Pedrillo von Michael Laurenz sieht aus wie Harry Potter und strahlt so viel positive Energie aus, dass ihm trotz einer gewissen Schüchternheit alles gelingt. Der Bassa Selim von Michael Maertens ist alles andere als ein Pascha. Seine Depression nach dem Verlust der Konstanze verwandelt die Schlussszene der Oper in eine Versammlung von Individuen, die im Spiegel nur sich selber sehen und nicht recht zueinanderfinden. Das aus dem Off erklingende Lob der Janitscharen auf des Herrschers Menschlichkeit wirkt da wie ein Hohn. Marthaler will das so. Aber hat Mozart das wirklich so gemeint?

Verweilen und Drängen

Weniger pessimistisch ist der Zugang, den der Dirigent Adam Fischer auf das Orchester der Oper Zürich überträgt. Der auswendig dirigierende Maestro hat Augen und Ohren für jedes Detail und überträgt seine Begeisterung auf die Sänger und die Instrumentalisten. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Balance zwischen den Streichern und den Bläsern sowie der deutlichen Ausgestaltung der häufigen Forte-Piano-Wechsel der Partitur. Dazu gesellt sich eine musikalische Dramaturgie, die Verweilen und Vorwärtsdrängen in ein schlüssiges Spannungsfeld stellt. Originell ist Fischers Entscheid, während der Umbaupause nach dem ersten Akt eine Bearbeitung von Arien-Highlights für Harmoniemusik aus der Feder Mozarts zu spielen. Und witzig der Einfall, den betrunkenen Osmin bei seinem Abgang den Beginn der Sarastro-Arie «In diesen heil'gen Hallen» lallen zu lassen. Die «Entführung» als Vorbote der «Zauberflöte».