Herbert Büttiker, Der Landbote (18.06.2012)
Mit der Festspielpremiere von Paul Hindemiths «Mathis der Maler» hat sich Alexander Pereira ein Finale arrangiert, das in Erinnerung bleiben wird. Hier ist alles erreicht, wozu das Opernhaus in der Zeit seiner Intendanz fähig wurde. Ein umjubelter Abend.
herbert büttiker
Im Parkett gab es leere Plätze, aber die Begeisterung am Ende des dreieinhalbstündigen Abends war vollständig und galt allen Beteiligten, dem Dirigenten Daniele Gatti, dem Regisseur Matthias Hartmann und den Protagonisten, allen voran Thomas Hampson, dem Interpreten der Titelrolle. Mit einer Ovation hatte der Abend auch begonnen. Als Alexander Pereira im weissen Smoking und verfolgt von einem Kameramann seine Loge betrat, fügte das Publikum mit einer überschwänglichen Huldigung das Seine zur Filmszene bei. Wie berechtigt Dankbarkeit für seine 21 Jahre Oper in Zürich ist, zeigte dann die Aufführung, die gleichsam alle Energien, die sich in diesem Haus in der Zeit seiner Intendanz entwickeln konnten, wie in einem Brennpunkt zum grossen Ereignis fokussierte.
«Mathis der Maler» ist ein Künstlerdrama und mehr, ein Stück voller innerer und äusserer Dramatik. Es geht um Menschen, die in der wüsten Zeit der Glaubens- und Bauernkriegs des 16. Jahrhunderts um die Bewahrung des Menschlichen ringen, ihre eigene Bestimmung suchen und sich im Scheitern verwirklichen. Mathis (Grünewald) wird angesichts der drängenden Zeitfragen an seiner einsamen Kunst irre und will handeln. Doch die rohe Gewalttätigkeit der Bauern, für die er sich an der Seite des Bauernführers Hans Schwalb engagiert, lässt ihn resignieren.
Schicksal und Bestimmung
Neben dem Drama des Künstlers spielt sich das des Regenten ab. Albrecht von Brandenburg, der Erzbischof von Mainz und Mäzen, der Kunst und Leben liebt, entzieht sich der Verantwortung und überlässt das Machtspiel Parteileuten und seinem Player Wolfgang Capito. Die Lutheraner versuchen ihn mit der Liaison der reichen Bürgertochter Ursula Riedinger auf ihre Seite zu ziehen. Diese ist, nachdem sich Mathis von ihr trennt, um in den Krieg zu ziehen, ebenfalls bereit, diesem «höheren Auftrag» zu folgen, und damit entwickelt sich ein drittes Drama. Denn die vom Vater eingefädelte Intrige scheitert, weil ihre Haltung dem Erzbischof so imponiert, dass er nun seinerseits sich auf sein religiöses Amt besinnt.
Hindemiths eigener Text liest sich spannend, wie ein Schauspiel im Geist des Ideen-Dramas. Die Partitur spannt ihn aber in eine Musik, die als lyrische Deklamation höchste Anforderungen an Stimme und Musikalität stellt: Grossartige Sänger-Darsteller wie Thomas Hampson (Mathis), Reinaldo Macias (Albrecht), Emily Magee (Ursula), Gregory Reinhart (Riedinger), Erin Caves (Schwalb), Benjamin Bernheim (Capito), die den Abend prägen, möchte man zuerst nennen. Aber die Reihenfolge der Aufzählung ist keine Rangfolge und bewundernswert auch an diesem Abend war die Werkarbeit hinter der Bühne für die grosse, siebenteilige Bilderfolge. Erstaunlich der «Apparat» überhaupt: Der Chor agiert in der aufgepeitschten Dramatik der Volksszenen mit wuchtiger und präziser Deklamation, das Orchester arbeitet sich imponierend durch Hindemiths kontrapunktreiches Furioso. Klangschön im Lyrismus der Solobläser wie in den strahlenden Tutti-Akkorden meistert es die von den Streichern dominierte motivisch und rhythmisch-motorisch komplexe Partitur gleichsam als Bruckner- und Strawinsky-Orchester in einem. Wie Daniele Gatti am Dirigentenpult die Energien geistesgegenwärtig bündelte und musikalische Leidenschaft entfesselte, war magistral: Auch der Chefdirigent für eine kurze Zeit des Übergangs schrieb sich an diesem Abend mit grossen Buchstaben in die Annalen der Zürcher Oper ein.
Zürcher Operngeschichte
Im Zeichen der Zürcher Operngeschichte stand ja auch die Premiere. Nachdem 1934 Wilhelm Furtwänglers Versuch gescheitert war, mit der Sinfonie «Mathis der Maler» in der Berliner Philharmonie für die Oper in Nazi-Deutschland das Terrain zu bereiten, übersiedelte Hindemith in die Schweiz und brachte das Werk in Zürich heraus. Die Uraufführung vom 28. Mai 1938 gehört zu den denkwürdigen Daten der Zürcher Musikgeschichte und reiht sich zwischen Uraufführungsereignisse wie «Der Kreidekreis» (Zemlinksy, 1933), «Lulu» (Berg, 1937), «Moses und Aaron» (Schönberg, 1957) «Griechische Passion» (Martinu, 1961) ein. Dass alle diese Werke in den letzten Jahren wieder auf die Zürcher Bühne zurückkehrten, auch das gehört zu den Markenzeichen der Ära Pereira.
Ein dunkles Halbrund mit wenigen Öffnungen begrenzt den Bühnenraum, ein weisses Element als Podium, Bilderrahmen und Flügelaltar und wenige weitere Objekte setzen markante Zeichen für die wechselnden Schauplätze: Johannes Schützes Bühne ist schlicht und zeitlos, während die Kostüme (Victoria Behr) sich deutlich an der Epoche des Geschehens orientieren. Bei den Männern herrscht Grau und Schwarz vor. Farbige Akzente setzen der Erz- bischof und die drei Frauen – neben Ursula als Schwalbs Tochter Regina Sandra Trattnigg und als Gräfin Helfenstein Stefania Kaluza. Die Bildwirkung intensiviert Hartmanns Inszenierung mit extensiver Gestik und spannungsvoll komponiertem Stellungsspiel: Operndramatik pur.
Göttliche Harmonie
Im wüsten Treiben des vierten Bildes der marodierenden Bauern konterkariert der tanzende Tod den drastischen Realismus der Folterszene, und noch einmal eine Steigerung findet die «Bühnenmalerei» im sechsten Bild: Mathis’ Visionen erhalten in der Überblendung von Motiven von Grünewalds Isenheimer Altar mit den live gefilmten allegorischen Figuren einen bildstarken, expressiven Kommentar zur Musik der Engel und höllischen Dämonen, und es gelingt hier die Kulmination des Werks in höchster szenisch-musikalischer Verdichtung. Wie es Hindemith im Lärm der Zeit gelingt, Diatonik noch einmal als Seinsgrund, als «die Kraft, die uns aufrechterhält», zu einem «Alleluia» entfalten, hat etwas Unerhörtes.