Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (18.06.2012)
Paul Hindemiths Oper «Mathis der Maler» wurde 1938 in Zürich uraufgeführt. Regisseur Matthias Hartmann tilgt nun alles Politische aus dem Werk in der letzten Premiere der Ära Pereira.
Es gibt Opern, die sich allen Aktualisierungsversuchen widersetzen, die fern bleiben, auch wenn man sie in ein Hochhaus umsiedelt und die Schwerter durch Schlagringe ersetzt. Paul Hindemiths «Mathis der Maler» gehört nicht dazu, im Gegenteil. Zwar handelt das Werk von jenem Matthias Grünewald, von dem man nicht viel mehr weiss, als dass er 1516 den Isenheimer Altar vollendet hat, vermutlich mit den Rebellen im Bauernkrieg sympathisierte und sein Leben als Mühlenbauer in Halle beendet haben soll. Aber die Renaissance diente dem Komponisten als Spiegel der Gegenwart; und der Künstler damals wird gezeigt als ein Vorgänger all jener, die (wie der «Kulturbolschewist» Hindemith selbst) nach Hitlers Machtergreifung um ihre Kunst zu kämpfen hatten.
Ein Regisseur muss also nicht lange suchen, um politisch Brisantes zu finden in diesem Werk, das zwischen 1932 und 1935 geschrieben wurde und im Zürcher Exil des Komponisten zur Uraufführung kam. Und er wird nicht nur im Kontext fündig, sondern auch im Text, den Hindemith selbst geschrieben hat. Es ist alles da: der Streit über die «richtige» Kunst, die Bücherverbrennung, die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen. Man hört Sätze wie diese: «Jeder planscht im eigenen Sumpf. Sie sehen nicht, was über ihnen geschieht.» Und auch das Personal findet man in den Geschichtsbüchern zu Grünewalds oder Hindemiths Zeiten ebenso wie in den heutigen Tageszeitungen: die Zweifler, die Fanatiker, die Taktierer, die Opportunisten.
Playmobil und Pyrotechnik
Matthias Hartmann - Ex-Chef des Zürcher Schauspielhauses, heute Leiter des Wiener Burgtheaters und bereits mehrmaliger Gast im Opernhaus - hat sich für all das wenig interessiert. Eine Bücherverbrennung in SA-Uniformen wäre ihm zu platt vorgekommen, schreibt er im Programmheft. Man mag ihm nicht widersprechen; aber eine Bücherverbrennung in Playmobil-Rüstungen wäre auch nicht nötig gewesen. Und selbst wenn die Pyrotechniker des Opernhauses wieder einmal ganze Arbeit geleistet haben: Das Feuer täuscht nicht darüber hinweg, dass man bis zu diesem Zeitpunkt, bis zum dritten von sieben Bildern, nicht viel gesehen hat.
Nichts jedenfalls, was einem diese Figuren nahegebracht hätte. Nichts von der originellen Quicklebendigkeit, die vor ein paar Monaten eine andere Künstleroper, Pfitzners «Palestrina», zum Zürcher Opernereignis gemacht hatte. Fast nichts, was über das klischeehafte In-die-Knie-Gehen und Ins-Leere-Gestikulieren hinausgehen würde. Und vor allem: rein gar nichts von dem, was Matthias Grünewalds Kunst ausgemacht hat. Im strengen schwarzen Halbrund von Johannes Schütz’ Bühne gibt es keinen Raum für das Expressive, Albtraumartige, traumhaft Schöne seiner Gemälde. Und die Kostümbildnerin Victoria Behr ist zwar zweifellos durch manches Museum gelaufen bei der Vorbereitung für diese Arbeit, hat hier einen glänzend rot gewandeten Kardinal gesehen, dort ein paar trinkende Bauern und im Rokoko-Saal eine Frisur für die Bürgerstochter Ursula, die zwar nicht in die Zeit passt, aber halt trotzdem schön ist. Doch das Resultat dieser Recherchen sieht bedenklich nach Kostümball aus.
Pracht und Prunk
So hat man bis zur Pause vor allem Musik gehört. Das ist nun allerdings nicht das Schlechteste, was einem bei dieser Oper passieren kann: Wer je der Meinung war, Hindemith habe klingendes Knäckebrot produziert, wird hier eines Besseren belehrt. Zwar hat er auch in diesem Werk seine Vorliebe für Fugiertes ausgelebt. Und Chefdirigent Daniele Gatti tut zusammen mit dem Orchester der Oper alles, damit man keinesfalls die Rückgriffe auf die Cantus-firmus-Technik der Renaissance überhören kann - also auf jenen Stil, bei dem dichte Strukturen um eine aus einem Choral oder einem Lied übernommene Melodie gebaut werden. Aber das alles wirkt hochdramatisch, hochemotional, sehr katholisch in seinem Verhältnis zu Pracht und Prunk (wobei ein bisschen mehr protestantische Feinzeichnung in den Bläsern nicht geschadet hätte).
So ist es die Musik, die erzählt von Mathis, der am Wert seiner Kunst in Zeiten des Krieges zweifelt. Vom Mädchen Regina, das auf das Gute hofft und in der Trauer über das Böse stirbt. Von Ursula, die Mathis liebt, aber in die Machtspiele eingespannt wird. Von den Lutheranern und den Rom-Getreuen, die über Prinzipien und Geld debattieren. Und von den Bauern, denen die Prinzipien egal sind, solange sie zu trinken und zu prügeln haben.
Trinken und prügeln: Das klingt auch bei Hindemith deftig, und der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor weiss das zu schätzen. Die übrigen Protagonisten haben es schwerer; für sie enthält das Werk viel Sprechgesang und reichlich abstrakten Text. Wie Emily Magee als Ursula ihre Sätze mit Kraft und Sinn zu füllen vermag, ist da bemerkenswert. Oder auch, wie Sandra Trattnigg als Regina ihre Stimme in den stillen Momenten zum Leuchten bringt. Dem Kardinal Albrecht von Reinaldo Macias glaubt man das Salbungsvolle sofort und das Entsagende etwas weniger. Und Benjamin Bernheim bewährt sich als Capito nicht zum ersten Mal in einer undurchsichtigen Rolle.
Und dann ist da vor allem Thomas Hampson als Mathis. Eine Wunschbesetzung, zweifellos: Hampson hat ein Flair für geplagte Gemüter (man erinnert sich an seinen Busoni-Faust), und er hat die Gestaltungskraft, mit der er auch komplexe Seelenzustände fassbar, fühlbar machen kann. Sein Mathis ist ein Verzweifelter, ein Pazifist, ein Liebender, ein Entsagender; kein Kämpfer, auch nicht gegen das Orchester, von dem er sich zuweilen in aller Gelassenheit überdröhnen lässt, weil er weiss, dass das, was er zu sagen und zu singen hat, schon gehört wird. Dass die Partie auch einem Hampson alles abverlangt, merkte man bei der Premiere allenfalls daran, dass seine Sprache im Laufe des Abends etwas von ihrer Prägnanz verlor; aber die letzte Resignation des Künstlers, sein Abschied von der Welt, gehört zum Berührendsten, was in letzter Zeit in diesem Haus zu erleben war.
Video und Volkslied
Vorher aber war dann doch noch der grosse Moment des Matthias Hartmann gekommen: im sechsten Bild, bei den Visionen, die Mathis heimsuchen. Sie kommen per Video, was nicht weiter neu ist bei diesem Regisseur - aber in der Umsetzung von Andi A. Müller grossartig wirkt. Ein Licht zeichnet Grünewalds Engel auf die leeren Leinwände des Isenheimer Altars, die live aufgezeichneten Bilder der Sänger mischen sich zu Fratzen verfremdet mit den Figuren seiner Fantasie. Wild und grell und brutal ist das, die heutige Technik und die alten Motive verbünden sich, ganz im Einklang mit Hindemiths Musik, die Reginas Lied «Es sungen drei Engel» im Strudel der zeitgenössischen Mittel unter- und wieder auftauchen lässt.
Erstmals während dieser Premiere war der Applaus danach nicht ratlos, sondern geradezu frenetisch. Und die Begeisterung reichte bis zum Schluss, und sie reichte für alle: für die Sängerinnen und Sänger; für Daniele Gatti, der nach drei Jahren als Chefdirigent seine letzte Zürcher Premiere dirigiert hat; für Matthias Hartmann, der seine szenischen Mitarbeiter ganz entgegen den Gepflogenheiten erst auf die Bühne rief, nachdem er selbst schon den Beweis abgeholt hatte, dass ihn die Zürcher immer noch mögen.