«Fidelio» überrascht in seiner Urform

Alfred Ziltener, Die Südostschweiz (10.09.2012)

Fidelio, 08.09.2012, Bern

Das Konzerttheater Bern hat Ludwig van Beethovens Oper «Fidelio» in der Urfassung herausgebracht. Zu erleben ist eine grandiose Aufführung, die am Samstagabend ihre Premiere feierte.

Diesen «Fidelio» dürfte kaum jemand im Berner Premierenpublikum je gehört haben. Das Konzerttheater Bern zeigt Ludwig van Beethovens Stück nämlich in der nahezu unbekannten Urfassung, deren Premiere am Samstagabend aufgeführt wurde. Der Regisseur und Choreograf Joachim Schlömer inszenierte. Das Berner Symphonieorchester wird geleitet von seinem Chefdirigenten Mario Venzago.

Nach dem Misserfolg der Uraufführung am 19. November 1805 hat Beethoven seine einzige Oper zweimal umgearbeitet. In der dritten Version von 1814 ist sie zum Publikumsrenner geworden. Der deutsche Komponist hat dabei vor allem gekürzt und gestrafft. Drei Nummern, darunter ein wunderbares Duett von Marzelline und Fidelio, hat er gestrichen, andere gründlich umgeschrieben. So erlebt man in der Berner Aufführung manche musikalische Überraschung – und eine Version der Oper, die in sich stimmig ist und trägt.

Die Musik im Vordergrund

Venzago, der sich im Programmheft dezidiert für die von erzwungenen Kompromissen freie Erstfassung einsetzt, ist auch im Graben ein engagierter Anwalt der Partitur. Er bevorzugt rasche Tempi, lässt plastisch und kontrastreich musizieren und setzt die Aufführung förmlich unter Strom. Das packt in jedem Moment. Da ist es richtig, dass Schlömer der Musik den Vortritt lässt. Olga Ventosa Quintana hat ihm eine eindrückliche Bühne gebaut.

Der erste Teil der Aufführung spielt in einem düsteren, neutralen Raum mit einer steilen Rampe als Spielfläche. Im zweiten Teil hebt sich innerhalb der Rampe die Drehbühne und gibt den Blick frei auf unterirdische Verliese. In diesem abstrakten Raum führt der Regisseur die Darsteller präzis und sparsam. Jede Bewegung, jeder Gang sagt etwas über die Figuren und ihre Beziehungen untereinander aus. Sadistische Spielchen mit den jeweils Untergebenen zeigen, wie selbstverständlich Unterdrückung und Machtmissbrauch in dieser Welt sind. Dass Jaquino im ersten Akt Marzelline vergewaltigen will, ist allerdings in diesem Konzept ebenso aufgesetzt wie die explizit gezeigte Hinrichtung Pizarros.

Kerkermeister mit Dolmetscher

Die Aufführung wird getragen von hervorragenden Sängern. Miriam Clark ist eine grandiose Leonore mit tragender Tiefe und leuchtenden Spitzentönen. Tomasz Zagorski singt Florestan mit grossem, leicht und nuanciert geführtem, golden schimmerndem Tenor. Pavel Shmulevic gibt dem Kerkermeister mit vollem, schwarzem Bass überzeugendes Profil. Aufgrund seines schlechten Deutschs lässt Schlömer ihn Russisch sprechen und von einem Gefangenen als Dolmetscher begleiten.

Camille Butscher ist eine jugendlich leuchtende Marzelline, und für Berns Publikumsliebling Robin Adams mit seinem kraftvoll-geschmeidigen, virilen Bariton ist Pizarro eine weitere Paraderolle.

In diesem Herbst beginnt in Bern – nach dem Zusammenschluss von Symphonieorchester und Stadttheater – eine neue Theater-Ära. Sie ist mit Beethovens «Fidelio» glanzvoll gestartet.