Beethoven – wie noch nie gehört

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (10.09.2012)

Fidelio, 08.09.2012, Bern

Mario Venzago und Joachim Schlömer gestalten «Fidelio» am Berner Stadttheater

«Neustart» steht prominent als Motto über der Berner Theatersaison. Theater und Sinfonieorchester sind (glücklich?) vereinigt zu «Konzert Theater Bern» ­unter der Leitung des ehemaligen Weimarer Intendanten Stephan Märki. Ein Modell, das auch für die Lösung der Basler Kulturfinanzierungsprobleme in die Diskussion gebracht werden sollte.

Und repräsentativ sollte die neue Ära beginnen. Mit Beethovens einziger Oper, «Fidelio», in der «Originalfassung» von 1805, allerdings erweitert um Kostbarkeiten wie den «Sonnenlicht»-Chor der Gefangenen, der eigentlich vom Kom­ponisten erst später hinzugefügt wurde. «Musikhistorisch unkorrekt, ­jedoch ein künstlerisches Muss», sagt Dirigent Mario Venzago dazu, und wer möchte ihm widersprechen?

Viel Ungewohntes hört man in dieser Aufführung, viel Wunderbares auch. Eine die Töne eines verminderten Dreiklangs abwärts schreitende, höchst ausdrucksvolle Arie der Leonore etwa («Ach, brich noch nicht, du mattes Herz») oder die Arie des Gefangenen Florestan mit dem Text «Ich kann mich noch nicht fassen», gefolgt von einem Duett mit seiner Gattin Leonore, die als Mann Fidelio verkleidet Eingang in den düsteren Kerker findet und Florestan befreit.

Erweiterte Dauer

Kurzweilig ist diese Fassung nicht, in Bern kommt man auf eine ­reine Spieldauer von 145 Minuten. Und dies trotz den überwiegend raschen Tempi, die Venzago mit dem vor allem in den Streichern ausgezeichnet prä­parierten Berner Orchester anschlägt. ­Gelegentlich wird die Grenze zum Forcieren erreicht, doch ist man damit der Welt Beethovens allemal näher als mit musikalischer Betulichkeit. Dass einzelne Ensembles (Terzett «Euch werde Lohn in bessern Welten») in der Premiere wackelten, wird den Verantwortlichen Anstoss dazu sein, noch an den Details zu feilen.

Gespaltener Charakter

Neben dem hellwachen, auf jede Regung des Dirigenten reagierenden Orchester ist die Sängerbesetzung in Bern das Erstaunlichste. Die Titelpartie singt Miriam Clark mit hochdramatischem, scharf profiliertem, über ungemeine Atemreserven verfügendem Sopran – eine Glanzbesetzung. Tomasz Sagorski als Florestan steht ihr in nichts nach, nur kämpfte er in der (von Beethoven später verkürzten Auftritts­arie mit den Worten «Florestan hat recht getan») am Premierenabend etwas mit der Intonation.

Ebenfalls eine tragende Partie ist die des Gefängniswärters Rocco (Pavel ­Shmulevich). Und hier beginnen die Probleme der Regie in dieser Produk­tion. Der Regisseur Joachim Schlömer – ein Ex-Basler wie Dirigent Venzago – zeichnet ihn als gespaltene Persönlichkeit, lässt ihn russisch sprechen und deutsch singen. Von ähnlicher Simplizität ist die Zeichnung des groben Jaquino, der unentwegt den Kopf anschlägt.

Und dann das: Noch während der Ouvertüre sieht man, wie Leonore sich als Mann einkleidet. Im zweiten Akt schaut Marzelline, die ja Fidelios Frau werden möchte, zu, wie sich Fidelio in die Frau Leonore zurückverwandelt. Warum sie keine Konsequenzen zieht und weiterhin an ihrem Projekt festhält, gehört zu den Ungereimtheiten dieser Inszenierung. Einer Inszenierung, die Momente von tanztheaterhafter Betriebsamkeit neben sterilen Tableaux und uninspirierter Rampensteherei kennt.

Fazit: ein musikalisches Ereignis, auch wegen der hier gespielten Fassung, aber szenisch eine verpasste Chance.