Die Liebe in Zeiten der Willkür

Oliver Meier, Berner Zeitung (10.09.2012)

Fidelio, 08.09.2012, Bern

Opernpremiere · Gewagt, gewonnen: Konzert Theater Bern zeigt zum «Neustart» Beethovens einzige Oper «Fidelio» in der selten gespielten Urfassung. Eine schnörkellose Inszenierung mit einem beherzten Orchester – und einer Protagonistin, die singend alle überstrahlt.

Ob wir in der falschen Oper gelandet sind? Miriam Clark schickt kühne Koloraturen in den Raum, duelliert sich mit dem Fagott, zwitschert wie ein Vogel, pflückt das hohe, zweigestrichene h. Wie eine Klangtänzerin. Wie – jawohl: die Königin der Nacht. Miriam Clark, deutsch-amerikanische Sopranistin mit Jahrgang 1980, ist ein aufsteigender Stern des Opernbetriebs. In Deutschland reiht sie Rollendebüt an Rollendebüt – und feiert zuverlässig Triumphe. Nun steht sie in Bern auf der Bühne, als Protagonistin in Beethovens einziger Oper. Fast hölzern wirkte sie in der ersten halben Stunde, verkleidet als Gefängnisgehilfe mit Namen Fidelio. Jetzt legt sie alles ab. Die Männeruniform. Die Hemmungen. «Komm, Hoffnung» heisst ihre Schlüsselarie. Der Ausflug in die Seele einer Liebenden, die sich entschliesst, ihren eingekerkerten Mann zu retten, die sich aufschwingt vom herben Kummer zur stolzen Zuversicht. Die Geburt einer Heldin im Bühnendunkel. Ein zehnminütiges Glanzstück, das im Berner Stadttheater mit Bravorufen bedacht wird.

Vollmundige Worte

Es ist ein kalkulierter Triumph. Konzert Theater Bern probt den «Neustart», die Befreiung vom lästigen Image des staubigen Stadttheaters. Man tut es mit Beethovens «Befreiungsoper». Mit einem vehementen Plädoyer für die Urfassung von 1805, die kaum je zu hören ist. Und man verkauft das Ganze mit vollmundigen Worten, die einen «markanten Schritt in der Beethoven-Rezeption» besingen. Nach der umjubelten Premiere lässt sich sagen: Es ist ein kleiner Schritt für die weite Opernwelt, aber ein ordentlicher für Bern. Das beginnt bei der Inszenierung von Joachim Schlömer: eine kunstvolle, atmosphärisch dichte Arbeit auf der Höhe der Zeit, ganz der Abstraktion und Reduktion verpflichtet. Die Bühne (Olga Ventosa Quintana) ist eine Blackbox mit schiefer Innenfläche, umgrenzt von einem bald matten, bald grellen Lichtrahmen. Schlömer dekliniert das Gefängnis als Metapher durch, spielt mit den Grenzen von innen und aussen, von Kunst und Realität.

Korrumpierte Macht

Es ist eine Geschichte der Liebe in Zeiten der Willkür, die hier erzählt wird. Einer Willkür und korrumpierten Macht, die zuverlässig von den Männern ausgeht – auf allen Stufen der Hierarchie: Jaquino, der Gefängniswärter (Andries Cloete), bedrängt die gute Marzelline (Camille Butcher), die Tochter von Gefängniswärter Rocco (Pavel Shmulevich), der sich selber als kleiner Herrscher aufspielt, zumindest bis er von Gefängnisgouverneur Don Pizarro (Robin Adams) kräftig heruntergeputzt wird. Dieser Pizarro aber ist bei Schlömer eher ein Freak als ein furchterregender Tyrann. Und man denkt daran, am Ende der Oper, wenn die Regie ihre böseste Pointe auspackt und Don Pizarro im hehren Schlussjubel kurzerhand erhängen lässt.

Zum Ereignis wird diese Produktion vor allem durch die sängerische Leistung. Vor der Premiere 1805 musste Beethoven die Gesangparts zusammenstreichen, weil die Sänger hoffnungslos überfordert waren. Bern punktet mit einer kompromisslosen «Vorabendfassung», die den Protagonisten alles abfordert. Miriam Clark wird mit ihrem dramatischen Koloratursopran zum Chamäleon. Ihre Stimme hat die volle Durchschlagskraft, zugleich wirkt sie agil und geschmeidig. Clark gestaltet ihren Part dynamisch raffiniert. Und sie ist nicht die Einzige: Auch Tomasz Zagórski, der als Gatte Florestan spät, aber markant Teil des Geschehens wird, genügt hohen Ansprüchen. Das gilt ebenso für Camille Butcher als Marzelline und Pavel Shmulevich als Rocco: Beide sind neu im Opernensemble, und ihre Figuren sind in der Urfassung deutlich aufgewertet.

Ein musikalisch kühner «Fidelio»

Mit ihrer Kultur der instrumental geführten Stimme fügen sich die Sänger bestens in das Konzept von Mario Venzago ein, der von einer «Sinfonie für Stimmen» spricht. Venzago ist seit langem der erste Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters, der sich im Stadttheater blicken lässt. Er zeigt einen kühnen «Fidelio», der viel deutlicher als die bekannte Schlussversion in der Singspieltradition von Gluck und Mozart steht (die Königin der Nacht lässt grüssen). Man könnte diese Musik noch sprechender, agiler, aber auch differenzierter spielen – die Referenzdirigenten der Urfassung (etwa John Eliot Gardiner) haben es gezeigt. Venzago indes treibt sein Orchester zu einer beherzten, zügigen, teils gar forschen Interpretation, mit einem schlanken, vibratoarmen Orchesterklang, den man so im Stadttheater selten gehört hat.