Daniel Allenbach, Der Bund (10.09.2012)
Lodernde Gewalten in der Musik, eine packende Regie und eine Sängerin, die zu explodieren scheint: Die Eröffnungspremiere von Konzert Theater Bern mit Ludwig van Beethovens Oper «Fidelio» begeistert.
Was braucht es, damit es den Chefdirigenten des Berner Symphonieorchesters, Mario Venzago, aus den Socken haut? Einerseits bestimmt eine fesselnde, musikalisch und szenisch überwältigende «Fidelio»-Premiere, die vom Publikum mit frenetischem Applaus, Bravo-Rufen und gar stehenden Ovationen gefeiert wird. Andererseits dürfte am Samstag wohl doch letztlich die extrem schiefe Bühnenebene das ihre dazu getan haben, dass sich Venzago zwischen zwei Applausrunden kurzerhand seiner Schuhe und Socken entledigte.
Gemeistert hat er nicht nur die beängstigende Schräge, sondern auch den Einstand im Haus am Kornhausplatz. Nach langen Jahren, in denen sich kein Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters in den Graben des Stadttheaters verirrte, wird die Eröffnungspremiere der ersten Saison unter dem gemeinsamen Dach von Konzert Theater Bern auch in dieser Hinsicht zum umjubelten Neustart. Dass man sich zu diesem Anlass viel vornahm, ist hör- und spürbar. Ein warmer, runder Orchesterklang bildet die Grundlage für die von Beethoven freigiebig eingesetzten Instrumentalsoli und für die Stimmen auf der Bühne. Dann wieder werden im Graben lodernde Gewalten entfesselt und scharfe Akzente gesetzt, spannungsvolle Kontraste und dynamische Abgründe ausgelotet.
Selten gehörte Arien
Abgesehen vom begeisternden Einsatz der Musikerinnen und Musiker des BSO an diesem Abend hat man auch im Vornherein den Aufwand nicht gescheut, sondern sich eine eigene Fassung von Beethovens einziger und mehrfach überarbeiteter Oper zusammengestellt. Dabei hat man den Rückgriff auf die erfolglose Erstfassung gewagt, sich aber auch die Freiheit genommen, einige spätere Änderungen zu belassen - eine Zusammenstellung, die durch selten gehörte Arien und Ensembles immer wieder überrascht und sich insofern bewährt, als dass dank der packenden Regie von Joachim Schlömer (siehe «Kleiner Bund» vom Donnerstag) der Spannungsbogen über die drei Stunden dauernde Vorstellung gewahrt werden kann.
Letzteres ist nicht selbstverständlich: Schwarz-weiss sind der Lichtrahmen und das schlichte, faszinierende Einblicke offenbarende Bühnenbild von Olga Ventosa Quintana - und schwarz-weiss ist auch die Moral von der Geschicht, die Beethoven mit diversen Librettisten nach einem französischen Stück gestaltet hat: «Wer ein holdes Weib errungen, stimm in unsern Jubel ein!» Der seelenlose Bösewicht wird derweil am Strick aufgeknöpft. Dass der Opernabend im Stadttheater dennoch nicht in statischem Schablonendenken verhaftet bleibt, ist das Verdienst des ehemaligen Choreografen Schlömer. Er arrangiert - auch dank der Lichtstimmungen von Karl Morawec - wunderbare Bilder, findet einfache, aber eindrückliche Gesten, legt ab und zu auch mal Spuren, die ins Nichts führen, und versucht gar nicht erst, jede Wendung der Handlung schlüssig zu erklären. Selbst das leicht altbackene Ende macht letztlich gerade durch seine schlichte Gestaltung grausen - und offenbart Abgründe, die bereits im Verlauf des Abends immer wieder mal aufblitzen.
Schwarze Seelen . . .
So erscheint etwa die Wäscherin Marzelline (Camille Butcher mit hell-flirrendem Sopran) wie ein Tier angebunden und wird von ihrem früheren Verlobten Jaquino auch so behandelt. Diesen zeichnet Andries Cloete als streitbaren und jähzornigen Triebtäter, der sich auch mit den Gefangenen immer wieder in Händel verstrickt. Kein Wunder deshalb, dass Marzelline sich rasch in den neuen Assistenten ihres Vaters, Fidelio, verliebt, der oder besser die eigentlich eine Frau ist, Leonore, die von der starken Liebe zu ihrem Gatten getrieben manche Gefahr auf sich nimmt.
Zwiespältig gezeichnet ist neben Jaquino auch Marzellines Vater Rocco (Pavel Shmulevich), der als Gefangenenwärter mit klangschönem Bass kaum Skrupel zeigt und beispielsweise seinen Übersetzer piesackt, einen die russisch gesprochenen Dialoge ins Deutsche übersetzenden Gefangenen (Michael Schönert mit beeindruckender Präsenz). Gleichzeitig hat er selbst aber auch immer wieder unter den unberechenbaren Anwandlungen seines Vorgesetzten Pizarro zu leiden. Dieser wird von Robin Adams mit wirrem Haar und teilweise sich fast überschlagender Stimme als ein dem Wahnsinn verfallener, sich einen Holzbalken als Schosshündchen haltender Kotzbrocken dargestellt; er scheint mit seinen glatzköpfigen Begleitern - die später ohne Kostümwechsel im Gefängnis sitzen - einem Irrenhaus entsprungen.
. . . und eine Heilige
Den Kontrast zu diesen eher düsteren Figuren, die sich die Macht teilen und den Druck von oben jeweils an den Untergebenen ablassen, bilden der als rettende Instanz aus dem Nichts auftretende Don Fernando (Daniel Henriks), der im tiefsten Kerker tenoral schmachtende Florestan (Tomasz Zagorski) und schliesslich die Inkarnation der treu liebenden Gattin, Leonore. Ist das sängerische Niveau dieser Produktion an sich schon hoch, singt Miriam Clark als Fidelio/Leonore sprichwörtlich um ihr Leben und das ihres Gatten. Mit grandiosem Stimmmaterial und intensiv glühendem Ausdruck gestaltet sie eine Partie, die an elementarer Wucht, aber auch an leisen Tönen nichts zu wünschen übrig lässt.
Anfang gut, alles gut?
Szenisch eingeführt wird sie, indem sie sich während der Ouvertüre bedrückt, aber doch irgendwie hoffnungsfroh in die Uniform (Kostüme: Heide Kastler) zwängt. Ein stolzes Lächeln überfliegt dabei ihr sorgenvolles Gesicht; später dann durchlebt sie die ganze Gefühlsskala zwischen Todesahnung und Freiheitsglück, bevor sie sich mit leichtem Unbehagen vom Chor (Einstudierung: Zsolt Czetner) zur Heldin erklärt sieht. Beeindruckend, wie sie im Augenblick der grössten Gefahr mit vollem Körpereinsatz geradezu zu explodieren scheint. Und atemberaubend, wie sie insbesondere in ihrer Bravour-Arie vor der Pause alle vokalen Register zieht und dabei vom Orchester mustergültig begleitet wird.
Für gewöhnlich heisst es: Ende gut, alles gut. Wenn nun bereits der Einstand von Konzert Theater Bern so überzeugend gelang, lässt die Fortsetzung viel erwarten.