Realismus statt Utopie

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (14.09.2012)

Fidelio, 08.09.2012, Bern

Urfassung von Beethovens «Fidelio» am Stadttheater Bern

Beim Stadttheater und beim Symphonieorchester Bern beginnt eine neue Zeitrechnung; die beiden Institutionen sind zusammengeführt. Den Auftakt macht eine neue Produktion von Beethovens Oper «Fidelio».

Über den Eingängen des Berner Stadttheaters flattern weisse Fahnen mit dem Schriftzug «Konzert Theater Bern». Der Name steht für die vor einem Jahr gegründete Stiftung, in welche die vorher unabhängigen Institutionen des Berner Symphonieorchesters (BSO) und des Stadttheaters Bern zusammengeführt wurden. Grund für die Fusionierung waren nicht zuletzt finanzielle Probleme, die allerdings mehr vom Stadttheater als vom BSO ausgingen. Seit der Saison 2011/12 zeigt sich «Konzert Theater Bern» nun erstmals mit einem gemeinsam gestalteten Spielplan, der insgesamt etwa 400 Veranstaltungen umfasst. Gesungen, gespielt, getanzt und vorgetragen wird im Kultur-Casino, im Stadttheater und in den 2007 eröffneten Vidmarhallen.

Neu gefasst

Die Eröffnungspremiere im Stadttheater mit Beethovens «Fidelio» unterstrich diesen Neuanfang in exemplarischer Weise. Dass das Berner Symphonieorchester im Graben des Theaters sass, war schon vor der Fusion der Normalfall. Dass aber dessen Chefdirigent die Aufführung leitet, ist eine Neuheit. Der Zürcher Mario Venzago, seit der Spielzeit 2010/11 Chefdirigent des BSO, steht, wie er am Radio erklärte, dem Opernbetrieb eher skeptisch gegenüber. Aber «Fidelio» gehört zu den wenigen Stücken, die er noch realisieren wollte, und auf seinen Vorschlag hin ist diese Oper nun für den Berner Neubeginn ausgewählt worden.

Ereignischarakter hat darüber hinaus die Tatsache, dass in Bern nicht die Standardfassung von Beethovens Oper gezeigt wurde, sondern die sehr selten gespielte Urfassung – beziehungsweise eine leicht modifizierte Form derselben, die Venzago selber eingerichtet hat. Bekanntlich hat Beethoven «Fidelio» nach der missglückten Uraufführung von 1805 noch zweimal umgearbeitet, nämlich 1806 und 1814, und diese letzte Fassung wird heutzutage normalerweise aufgeführt. Die Urfassung ist gegenüber der Standardfassung etwa 45 Minuten länger, widmet der Marcellina-Geschichte grössere Aufmerksamkeit und ist noch nicht vom gleichen utopischen Pathos erfüllt.

Florestans Kerkerarie endet in Bern nicht mit der ekstatischen Wendung «Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich, der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich», sondern mit dem realistischen Andenken an die «schönen Tage, als mein Blick an deinem hing». Der Tenor Tomasz Zagórski, für einen ausgehungerten politischen Gefangenen viel zu füllig, verfügt stimmlich über eine Leuchtkraft, die sich vor allem in den lauten Passagen zeigt. An die Leonore von Miriam Clark kommt er aber nicht heran. Die deutsche Sopranistin ist eindeutig der Star dieser Produktion. Wie sie den Wandel von der emotional zurückgebundenen Hosenrolle zur befreiten und befreienden Frau darstellerisch und stimmlich schafft, ist schlicht sensationell. Konkret geschieht das in ihrer grossen Monolog-Arie im zweiten Akt, deretwegen allein sich der Besuch der Aufführung bereits lohnt.

Dass die Urfassung Marcellinas Sehnsucht nach kleinbürgerlichem Eheglück so viel Raum gibt, verbessert allerdings das Verständnis für das Stück nicht. Jedenfalls erwecken das etwas blasse Auftreten und die nicht sehr wandlungsfähige Stimme von Camille Butcher wenig Anteilnahme. Andries Cloete dagegen, der als Pförtner Jaquino Marzelline nachstellt, ist als Rolle aufgewertet, indem er sich nicht als netter junger Mann, sondern als potenzieller Vergewaltiger zeigt. Dass Rocco lieber Russisch als Deutsch spricht und einen Gefangenen als Übersetzer braucht, ist ein Gag, der auf den Russen Pavel Shmulevich zugeschnitten ist.

Die Absichten des Regisseurs Joachim Schlömer, der Bühnenbildnerin Olga Ventosa Quintana und der Kostümbildnerin Heide Kastler lassen sich am deutlichsten an der Figur des Pizarro von Robin Adams aufzeigen. Im Unterschied zu Rocco ist der Gouverneur des Staatsgefängnisses kein Militär in grauer Uniform, sondern ein Durchgeknallter mit langen Haaren und offener weisser Jacke. Er steht dafür, dass Gewalt heutzutage nicht nur von totalitären Regimen ausgehen kann, sondern auch von Verblendeten und Terroristen. «9/11» lässt grüssen. Die Gefangenen werden in kahlen, grauen und dunklen Innenräumen festgehalten, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Umso wirkungsvoller dann die Wende am Schluss: Pizarro wird erhängt, die befreiten Gefangenen präsentieren sich in bunten Kleidern und im hellsten Bühnenlicht. Aber sie können ihr Glück noch nicht richtig fassen und bleiben bei ihrem chorischen Schlussjubel «Wer ein holdes Weib errungen» – der nicht nur textlich an das Finale der Neunten anspielt – wie angewurzelt stehen. Und auch Leonore kann sich noch nicht richtig am wiedergewonnenen Gatten freuen. Der Schock über die menschlichen Abgründe, die sie erlebt hat, sitzt noch tief. Solche Szenen, in denen die Bewegungen zu raffiniert angeordneten Bildern gerinnen, gehören zu den Stärken dieser Inszenierung.