Wasser, das den Tod bringt

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (15.09.2012)

Kátja Kabanová, 13.09.2012, Basel

Das Theater Basel beginnt seine neue Spielzeit mit der Oper «Katja Kabanowa» von Leos Janácek

Er muss ein komischer Kauz ­gewesen sein, der aus dem mährischen Brünn stammende Musiklehrer, Organist und Komponist Leos Janácek (1854–1928). Ein Schüler von ihm berichtet, wie der Meister in einer Unterrichtsstunde einen Akkord immer und immer wieder auf dem Klavier anschlug und verärgert war, als keiner der Studenten sagen konnte, was dieser Akkord «sei». Für Janácek dagegen war klar: «Eine Feuersbrunst!» Danach soll er verärgert den Raum verlassen haben. Fraglos kein Lehrer, wie man ihn sich heute im Zeitalter der einfühlenden Verständnis-Innigkeit von Lehrern und Schülern wünscht.

Öfter sah man Janácek mit einem Notizblock durch die Stras­sen schlendern und plötzlich anhalten, um den Sprachduktus einer Unterhaltung, die er zufällig aufschnappte, aufzuschreiben – das Rohmaterial für seine ganz eigene, lange Zeit nicht verstandene und bis heute nicht wirklich populär ­gewordene Musiksprache. Daraus, dass er solche Notate für seine Kompositionen nutzte, machte er kein Geheimnis, ebenso wenig wie Olivier Messiaen ein halbes Jahrhundert später, als er aus Vogelstimmen Musik ableitete.

Inspirierende Liebe

Als gestandener Mann weit über sechzig verliebte sich Janácek in die 38 Jahre jüngere Kamilla Stösslová und widmete ihr in vollkommener Offenheit sein zweites Streichquartett «Intime Briefe». Kamilla Stösslová war es wohl auch, die ihren väterlichen Freund zur Oper «Katja Kabanowa» inspiriert hatte, komponiert nach dem Drama «Das ­Gewitter» von Alexander Ostrowski und im Oktober 1921 im Nationaltheater Brünn uraufgeführt. Es geht darin um einen Ehebruch, und wer jetzt noch ­behauptet, Leben und Werk grosser Künstler seien zwei Paar Stiefel, ist ­unverbesserlich naiv.

In diesem Werk tritt eine andere durchaus originelle Seite Janáceks in Erscheinung: seine Vorliebe für naturwissenschaftlich-technische Denkweisen. In der Oper «Die Ausflüge des Herrn Broucek» hatte er einen Weltraumflug zum Mond zum Opernstoff gemacht, und in «Katja Kabanowa» drehen sich einige Gespräche darum, ob Blitze am Himmel Ausdruck von Gotteszorn oder die Folgen einer elektrischen Entladung sind. Da prallen zwei Weltbilder, ein religiös-irrationales und ein physikalisch-rationales, aufeinander – und dies alles im Rahmen der Gattung Oper, in welcher man sonst nicht ge­rade die Erörterung meteorologischer Erscheinungen erwartet.

Drehbares Gebäude

Der deutsche Schauspielregisseur Armin Petras und seine Bühnenbild­nerin Kathrin Frosch, die «Katja Kabanowa» für das Theater Basel neu gelesen und inszeniert haben, nehmen diesen Konflikt der Weltbilder ernst. Auf ihrer Bühne fliesst eine zum Rinnsal verkommene Wolga träge dahin. Dahinter steht ein Betonbau, der angeblich ein «Erd­bebentestgebäude» darstellt. Man könnte auch an ein hydrologisches ­Labor denken, in welchem die Wasserqualität geprüft wird.

Mit diesem hat die gesamte Dorf­bevölkerung beruflich und privat zu tun. Dreht man das Haus um – die Drehbühne machts möglich –, so sehen wir einen Rohbau von der Art, wie man sie in Italien oder Spanien massenhaft antrifft, ein nicht zu Ende gebautes Wohnhaus, eine Ruine der Immobilienkrise, die ­gerade auf dem Land zugeschlagen hat.

Die Personenführung ist hervorragend und das suggestive, an Details und kleinen Geschichten reiche Bühnenbild nicht blosses Accessoire, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Interpretation. Zu den Sensationen der technischen Ausstattung gehört die ­regenreiche Gewitterszene, welche die Bühne in ein sumpfiges Feuchtgebiet verwandelt. Da hilft alles Analysieren und alles Wehren gegen die Natur­gewalten nichts.

In der ersten Szene erlebt man eine böse Mutter Marfa (mit dunkel und ­bedrohlich gewordenem Mezzosopran: Dagmar Pecková, nach bald zwanzig Jahren eine Rückkehr ans Theater ­Basel), die ihren schwächlichen Sohn Tichon grob und herablassend behandelt. Diese Figur wird in der Basler ­Inszenierung aus nicht wirklich zwingenden, aber durchaus bühnenwirksamen Gründen verdoppelt. Dem Sänger Tichon – mit Sonnenbrille und schmiegsamem Tenor: Tomas Cerny – ist ein stummes ­Tichon-Double (Peter Moltzen) beigegeben, das bald kontemplativ am Wasser sitzt, bald im Unterbau des Hauses festhängt und bald sich in der seichten Wolga wälzt.

Gefühlskalte Ehe

Katja ist eine Träumerin, die nicht träumen darf. Die mit dem rechtschaffenen, aber gefühlskalten Kaufmann ­Tichon verheiratete junge Frau hat mit dem Leben noch nicht abgeschlossen, sie hätte durchaus noch einige Wünsche offen. Und sie hat mit der Schwägerin Warwara eine Gefährtin, die ihre uneingestandenen Wünsche versteht und sie zum Ehebruch mit dem jungen Boris ermuntert, vielleicht eigene Bedürfnisse in Katja projizierend.

Wie aber bringt man romantische Erinnerungen und sehnsüchtige Träume auf die Bühne? Am besten mit dem Medium, das von Träumen und Sehnsüchten lebt, mit dem Film. Im ersten Akt sehen und hören wir die zwei Frauen, Katja und Warwara, im Duett. Letztere (eine attraktive Erscheinung, eine fabelhaft klare Stimme und eine erfreuliche Entwicklung vom Opernstudio zur vollgültigen Singschauspielerin: Solenn’ Lavanant-Linke) spielt vor ­einer Plastikplane, die als Projektionsleinwand dient.

Auf dieser sieht man Katja ihre religiösen Fantasien, ihre Erinnerungen und Visionen aussingen. Mary Mills singt und spielt das mit der notwen­digen Emphase, mit Präzision und ­glühender Leidenschaft in den hohen Lagen, aber leider etwas schmalem ­tiefem Register. Janácek hat eben selten «angenehm» für die Stimme komponiert und verlangt seinen Stimmkünstlern oft fast Unmenschliches ab. Doch die Basler Besetzung der Titelpartie leistet fast alles, was die Partitur und die Rolle verlangen.

Tödliche Skrupel

Nach der berufsbedingten Abreise ihres Mannes Tichon gerät Katja in einen Gewissenskonflikt. Sie ist heimlich verliebt in Boris, möchte den Trieb aber in sich unterdrücken. Denn was die Religion verboten hat, ist tabu. Warwara verführt sie, indem sie ein Treffen mit dem Mann arrangiert.

Dieser – Ludovit Ludha mit geschmeidigem, bis in die Höhen sicher geführtem Tenor – kommt mit Blumen und Pralinés zum Rendez-vous. Katja aber hält einen grossen Hammer in den Händen, wie wenn sie damit ihre unerlaubten Gefühle totschlagen könnte. Es kommt zur Vereinigung der beiden ­Liebenden und danach zum schuld­bewussten Bekenntnis der Katja, Unrecht begangen zu haben.

Niedergeschlagen vor lauter Schuldgefühlen, begeht Katja Selbstmord. Im Original-Libretto stürzt sie sich in die Wolga, in der Basler Aufführung trinkt sie ein Glas vergiftetes Wasser. Das ist wenig spektakulär, aber konsequent. Die Folgen sind dieselben, der sichere Tod. Inzwischen haben sich Warwara und der naturwissenschaftlich orientierte Lehrer Kudrjasch (vorzüglich, auch in seinem Volkslied im zweiten Akt: der Tenor Norman Reinhardt) ­gefunden – neben dem tragischen ­«hohen Paar» gibt es hier ein glückliches «niederes Paar».

Entgegen einer Tradition beginnt das Theater Basel seine Spielzeit nicht mit einer Choroper (der Theaterchor hat aus­schliesslich Vokalisen zu singen), sondern mit einer eher wenig ­bekannten, tragischen Oper, die sehr ruhig mit einem b-Moll-Sextakkord im Pianissimo anfängt und viel interessante Musik, aber keine Arien enthält, die man auf der Strasse nachpfeift.

Das ist schon einmal ziemlich mutig. Mutig ist auch die Entscheidung, gleich drei Dirigenten im Wechsel für dieses Meisterwerk der Moderne einzusetzen. In der Premiere am Donnerstag führte Enrico Delamboye das Sinfonieorchester Basel zu einer ­exzellenten Leistung – und Janáceks Oper verlangt nicht nur von den Sängern, sondern auch vom Orchester viel. Man denke nur an die raschen Repetitionstöne der Solotrompete im ersten und an die des Solohorns im dritten Akt. Chapeau!

In der Gewittermusik des dritten Akts, in welcher das Haus auf der Bühne bedrohlich wankt, verlangt der Komponist ein scharfes Fortissimo, und die Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Basel liefern es, ebenso wie das unheimliche Schicksalspochen und die sanften Streicherkantilenen in den lyrischen Abschnitten dieses Werks. Eine runde Orchesterleistung.

Am Ende der pausenlosen, auf hundert Minuten gekürzten Aufführung in tschechischer Sprache mit Übertiteln gab es zuerst ein wenig Ratlosigkeit, dann aber warmen Applaus im Basler Premierenpublikum.