Die Entzauberung der Flöte

Peter Surber, St. Galler Tagblatt (19.12.2011)

Die Zauberflöte, 17.12.2011, St. Gallen

Nach zehnjähriger Pause hat St. Gallen eine neue Zauberflöte. Jeremy Carnall dirigiert, Bernd Mottl inszeniert eine Version, die Mozarts Mysterienoper zu verkindlichen sucht – mit flachem Ergebnis. Am Samstag war Premiere.

Sarastro ist noch nicht fertig angezogen, als er zu Pamina ins Séparée tritt, sie mit dem Dolch in der Hand antrifft und ihr erstmal erklären muss, dass man in diesen heil'gen Hallen die Rache nicht kennt. Also nutzt er die zweite Strophe seiner berühmten Hallen-Arie – «In diesen heil'gen Mauern / wo Mensch den Menschen liebt» – dazu, in seinen Überrock zu schlüpfen. Priester sind auch nur Menschen, inklusive Komplikationen bei der Ärmelsuche.

Bloss lenken diese vom Gesungenen ab. Die Szene ist bezeichnend – Regisseur Bernd Mottl holt Mozarts «Zauberflöte» von 1791 rabiat auf Menschenmass herab. Dazu passt der Sarastro des lettischen Sängers Roman Polisadov. Ihm fehlt es nicht an stimmlicher Tiefe und körperlicher Grösse, aber an priesterlicher Grandezza und spirituellem Tiefgang. (Und, nebenbei und nicht nur ihm, an Deutschkenntnissen für diese sprechtextreiche Oper.)

Sarastros Ordensbrüder scheinen langbärtig aus dem «Herr der Ringe»-Kino auf die Opernbühne geraten zu sein, während das Volk, die Herren und Damen des untadelig singenden St. Galler Theaterchors, in Bürolisten-Uniform mit Einheitsbrille aufmarschieren muss. Das «bessre Land», Sarastros «Reich des siebenfachen Sonnenkreises»: eine Fantasy-Burg? Und zugleich die erste Vorhölle der Bürokratie? Wir sehen nicht, wohin Mottl und sein Ausstatter Friedrich Eggert damit wollen.

In der Barbiewelt

Sicher scheint: Sie mögen das «O-Mensch»-Pathos nicht, das in diesem Mysterienspiel in der Tat manchmal überquillt. Statt in den «heil'gen Hallen» landen wir deshalb erst einmal im Kinderzimmer. Dort, im Pyjama und zu kurz gewordenen Bett, sieht sich Tamino von der (unsichtbaren) Schlange bedroht und wird von den Drei Damen (Evelyn Pollock, Susanne Gritschneder und Katja Starke in komischem Nonnenkostüm) gerettet.

Immerhin öffnen sie ihm die Tür zum bezaubernd schönen Anblick jener Pamina, die er mit Hilfe seiner Flöte und des redseligen Vogelhändlers Papageno aus dem Kerker des Bösewichts Sarastro befreien soll. Ein schönes Trio: Markus Beam im Rastalook als munterer, stimmlich zum Teil etwas rustikaler Papageno, Julien Behr als Musterknabe mit leicht geführtem, allerdings bedecktem Tenor, und die Pamina von Simone Riksman locker, strahlend, charmant, unbestreitbar die Königin der Premierenbesetzung.

Pamina-Riksman gelingt das Kunststück, uns menschlich anzurühren, obwohl man sie in ein unsägliches Barbie-Kostüm gesteckt hat, Blondinchen im Rosajupe, geputzt und gepudert. Während ihr Ken seinen Initiationsweg in einer nicht minder klischeehaften Schüleruniform absolvieren muss. Uniform sind auch die beiden Priester (Marc Haag, David Maze), uniformiert sind selbst die drei Knaben, Solisten der Zürcher Sängerknaben, für deren Auftritte es Sonderapplaus gab.

Allgegenwärtig: Die Mauer

Zwei junge Leute, die sich und einander suchen und dafür den Weg durch die Prüfungen des Sarastro-Kreises unter ihre baren Füsse nehmen müssen: Darauf will diese «Zauberflöte» hinaus. Das geglückte Zeichen dafür ist die Riesenmauer, die im Ouvertüren-Bild Tamino und Pamina trennt, die drehend immer neue Szenerien des Getrenntseins und der Polarität zum Vorschein bringt. Und welche das Paar im Schlusschor durchbricht.

Vor dieser grauen Wand kommt die heitere Parallelhandlung umso farbiger zur Geltung: Papageno bringt Tamino mit Vogelpuppen zum Lachen, dem finsteren Monostatos (Riccardo Botta) und seinen Gesellen fährt das Glockenspiel allerliebst in die Beine, und am Ende bejubelt Papageno mit seiner Papagena (Alison Trainer) die «vielen Kinderlein» auf einem knallroten Sofa.

Einweihung ohne Ziel

In dieser Mauer öffnen sich ständig andere Türen. Aber dennoch findet die Inszenierung den Ausgang aus dem Kinderzimmer nicht. Im Ausstattungs-Puppenhaus dieser St. Galler «Zauberflöte» haben Tamino und Pamina keine Chance auf eine ernstliche innere Entwicklung. Ihr Zueinanderwollen und Voneinandermüssen bleibt mechanisch. Sogar die Musik ist entzaubert, auch wenn Soloflötist Marc Fournel unten im Graben berückend spielt: Oben auf der Bühne ist aus der Flöte ein knorriger Holzstecken geworden, an dem Tamino ratlos herumfingert; wenigstens könnte er mit ihm den drei Gouvernantentanten einmal eins zwicken, wenn es denn schon um jugendliche Selbstfindung geht.

Gewiss, das wäre nicht werktreu – auch wenn Mozart selber aktenkundig ein Bengel war. Werkgerecht ist aber auch eine solche Flötenentzauberung nicht. Sie schickt die Kids als Püppchen auf den Weg, verharmlost die erste Prüfung als Schulstuben-Kinderei, macht die dritte zum fragwürdigen Stresstest im Hochofen.

Die Erwachsenenwelt ein Uniformen-Albtraum, dem man rasch entfliehen möchte, das Reich des Sarastro ein spiritueller Leerraum: Damit wird das Stück geheimnislos, die Einweihung ziellos und das Tugendprogramm des Finales – «Stärke, Schönheit, Weisheit» – sinnentleert.

Straff geführt

Bleibt die Musik. Bleibt eine der beglückendsten Partituren der Musikgeschichte. Jeremy Carnall führt das Sinfonieorchester St. Gallen engagiert und routiniert durch das Wunderwerk. Er hält die verwinkelten Ensemblestücke mit straffer Hand zusammen, auch wenn es an der Premiere noch hie und da (etwa im Terzett «Soll ich dich Teurer nicht mehr sehn») wackelte und namentlich Sarastro nicht immer Tritt hielt.

Aber auch aus dem Graben würde man sich mehr Kontur wünschen, gezieltere Sforzati, entschiedenere dynamische Kontraste, rätselhaftere Pianissimi, mehr gestalterisches Risiko in den Überleitungen. Die Latte heutiger, historisch versierter Mozart-Praxis liegt hoch.

Furiose Rächerin

Volles Risiko gehen Regie und Solistin mit der Figur der Königin der Nacht ein – und hier immerhin mit triumphalem Erfolg. Die «sternglänzende» Königin ist zur hinkenden reichen Lady herabgesunken, mit zittrigen Knien und fuchtelndem Gehstock stellt sie Töchterchen Pamina zur Rede. Beate Ritter spielt und singt phänomenal – mit stählerner Leichtigkeit lockt sie ihre Zorneskoloraturen so selbstverständlich aus diesem Schmerzenskörper heraus, als hätte Mozart sich das genauso gedacht.

Was Wolferl aber von der Inszenierung insgesamt gehalten hätte? Vielleicht hätte er mit Tamino gesungen: «Ertrag es mit Geduld und denk, es ist der Götter Wille.»