Eine ganz normale Frau

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (20.12.2011)

Carmen, 18.12.2011, Basel

Bizets «Carmen», inszeniert von Calixto Bieito, am Theater Basel

Nicht halb entblösste Arbeiterinnen mit Zigarren zwischen den Lippen sind es, die hier aus einer Fabrik strömen und auf die draussen wartenden Männer stossen. Kein pittoreskes Mauerwerk, von der Sonne Sevillas beschienen, ist zu sehen. Vor dem dritten Akt wird selbst der Stier, der als mächtiger Scherenschnitt im Hintergrund prangt, mit Effekt umgestossen. Und das grosse Tableau mit dem Einzug der Stierkämpfer in die Arena wird als reine Mauerschau gezeigt, bei der das Spektakel im Zuschauerraum stattzufinden scheint und auf der Bühne Zuschauer jubeln, die als Masse von Zaungästen ausgeschlossen bleiben.

Etwas brav

In seiner berühmt gewordenen Inszenierung von Georges Bizets «Carmen», die 1999 für das katalanische Festival Castell de Peralada und die Opera Zuid in Maastricht entstanden ist und auf ihrer langen Reise durch die Opernhäuser Europas jetzt im Theater Basel haltmacht, nimmt der Regisseur Calixto Bieito dem Stück fast jedes Lokalkolorit. Und damit auch jene ebenso wärmende wie verharmlosende Einkleidung, die zur Rezeptionsgeschichte dieser Oper gehört. Er führt die Geschichte vielmehr auf ihren Kern zurück; im zweiten Akt versammeln sich auf der von Alfons Flores gestalteten Bühne ganze fünf Exemplare jener zerbeulten Mercedes-Limousinen, die zu einer echten Schmuggler-Bande gehören. Womit die Spannung zwischen Carmen und José unbarmherzig ins Licht gestellt wird. Es ist die Spannung zwischen einem in seinen Rollenvorstellungen gefangenen Mann und einer Frau, die ihre Emanzipation hinter sich hat und auf Autonomie pocht.

Wenig bis nichts gibt es an diesem Abend von jenen Ingredienzien, die zu Bieitos szenischer Handschrift gehören und an denen man sich so wohlfeil reiben kann. Etwas Blut ist da: am Ende, wenn der gedemütigte Mann der selbstsicheren Frau die Kehle aufschlitzt. Auch etwas Nacktheit: im traumverlorenen Intermezzo mit dem Flötensolo, zu dem ein Stierkämpfer à poil im Halbdunkel seine Bewegungen einstudiert. Schon präsenter sind Handgreiflichkeiten wie der Griff an die Scham; der Leutnant Zuniga (Andrew Murphy), ein Biedermann, der seine Arbeit tut und sich abends mit Zigeunerinnen zu vergnügen liebt, wird nicht aus der Bar von Lillas Pastia weggeführt, sondern ausgesprochen drastisch zu Tode gebracht. Vollkommen abwesend ist jedoch die knisternde Erotik; denkbar weit weg ist die Atmosphäre der Zürcher Inszenierung von 1982 mit Agnes Baltsa und José Carreras. Bei Bieito geht es umstandslos, ja brutal zur Sache.

Neu ist das nicht. Dass es auch etwas brav bleibt, mag mit der Besetzung der Titelrolle zusammenhängen. Tanja Ariane Baumgartner, in bester Erinnerung seit der Verkörperung der Titelrolle in Othmar Schoecks «Penthesilea», wirkt in ihrem Körperausdruck merklich verklemmt. Gesanglich meistert sie die Partie der Carmen aber mit Anstand, auch wenn ihrem Timbre der entscheidende Glanz fehlt. Fast mehr Interesse erweckt die kleine Rolle der Micaëla, der Svetlana Ignatovich mit ihrem tief sitzenden Sopran und ihrem dunklen Timbre jede soubrettenhafte Beiläufigkeit nimmt; Micaëla, für José die Sendbotin aus der eigentlichen Welt, erscheint hier beinah als die andere Carmen – als eine ganz normale Frau eben. Dies durchaus im Gegensatz zu Frasquita (Deborah Leonetti) und Mercédès (Cordelia Weil), die konventionell als Flittchen gezeichnet sind. Im Rahmen des Gewohnten bleiben auch die Schmuggler Remendado (Karl-Heinz Brandt) und Dancaïro (Christopher Bolduc).

Französisch oder italienisch?

Bieitos Ansatz hat auch seine Konsequenzen auf der Seite der Männer. Als Escamillo ist der Koreaner Eung Kwang Lee kein Übermann, er bleibt auch stimmlich eher mittelformatig. Anders Will Hartmann, der als José von Anfang an voll loslegt, der Kraft und tenoralen Glanz verbreitet, im Finale aber auch sehr zermürbt, ja zerknittert wirkt und dort zu erkennen gibt, dass er auch etwas leiser singen kann. Davon, vom Leisen, ist wenig zu hören in dieser Produktion – wo Bizet doch durchaus dafür gesorgt hätte. Der Dirigent Gabriel Feltz zielt durchgehend auf den grossen sinfonischen Rausch, und dabei gelingt ihm und dem Sinfonieorchester Basel nicht alles. An der Premiere kam die Ouvertüre derart rasch daher, dass die Akkordgänge der ersten Geigen am Anfang nicht mehr zu vernehmen waren, und oft geriet das Gefüge arg ins Wanken. Zusammen mit der kompakten Strahlkraft des Protagonisten erzeugt der feste Klang des Instrumentalen fast italienische Verhältnisse – ein klarer Widerspruch zur Präsentation von «Carmen» als Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen.