Die Demontage eines Mythos

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (20.12.2011)

Carmen, 18.12.2011, Basel

Schlicht, ergreifend und schlicht ergreifend – «Carmen» mit Calixto Bieito und Gabriel Feltz an der Basler Oper

Die Oper ist ein gefrässiges Monster. Nicht nur, weil diese Theatergattung unbotmässig Geld verschlingt, sondern auch, weil es hier ganz normal ist, die schönsten Inszenierungen nach zehn oder fünfzehn Aufführungen auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen, während kein Mensch auf die Idee käme, einen Kandinsky oder Klee zu vernichten, nur weil viele Museumsbesucher ihn gesehen haben.

Doch gibt es Ausnahmen von dieser Regel. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito hat 1999 am Festival von Paralada Georges Bizets Oper «Carmen» in Szene gesetzt, und seither wird er immer wieder nach dieser Aufführung gefragt – nicht zuletzt, weil er doch Spanier ist und zu diesem hispanisierenden Stück eines französischen Komponisten eine besondere Beziehung haben muss.

Jetzt kam seine Inszenierung nach etlichen Zwischenstationen in mehreren Ländern als Premiere am Theater Basel heraus, an dem Bieito seit 2006 arbeitet. Und verbuchte einen nur durch einige obligate Buhs getrübten überwältigenden Applaus, in dem sich das ganze Ensemble sonnen durfte.

Die leere Bühne

Das spanische Lokalkolorit ist in dieser in den Siebzigerjahren spielenden Inszenierung von untergeordneter Bedeutung. Eher haben wir es mit einem Spanisch-Tun zu tun, mit einer Maskerade, die etwa Frasquita und Mercé- dès – beide vorzüglich dargestellte und gesungene leichte Mädchen und Kolleginnen Carmens (Deborah Leonetti und Cordelia Weil) – mit kokett lächelnder Selbstironie vollziehen.

Gewiss, die rot-gelbe Nationalflagge wird schon in der ersten Szene gehisst und flattert ein wenig müde im Wind, und im dritten Akt dominiert die hölzerne Silhouette eines Werbe-Stiers die Bühne – spielt das Finale doch vor der Stierkampfarena, wo Carmen im selben Augenblick und in derselben Haltung sterben wird wie das Tier. Doch wird dieses Symbol eines archaischen Machismo ebenso wie der Carmen-Mythos alsbald in seine Einzelteile zerlegt und macht für den Schlussteil der leeren Bühne von Alfonso Flores Platz.

Die Zigeuner mitsamt der freiheitsdurstigen Carmen sind moderne Fahrende und Schmuggler mit stattlichen Mercedes-Limousinen, wie sie überall vorkommen, wo Autos noch Statussymbole sind. Und da Calixto Bieito ein ungemein bewegungsfreudiger und in der Personenführung schonungsloser Regisseur ist, werden die Autos ebenso wie die Flittchen, die in ihnen herumkutschiert werden, öfter einem Stossdämpfertest unterzogen und wird auf dem dicken deutschen Blech herumgehüpft und -getrampelt, dass das Herz eines jeden Karosseriespenglers flattern muss.

Auch die Soldaten im ersten Akt sind keine Pappkameraden, sondern ringen und raufen gehörig miteinander, wenn die Arbeiterinnen aus der Zigarettenfabrik Pause haben und mit nichts anderem locken als mit sich selbst. Einmal hängen sie sogar eines dieser leichten Mädchen an der Flagge auf. Die Szene ist typisch für Calixto Bieitos Interpretation des Stücks, die emotional ergreift und ohne pseudointellektuelle Verrätselung auskommt. Hervorragend präsent: der Theaterchor von Henryk Polus mitsamt Knaben- und Mädchenkantorei. Für die Jubelszene der Masse im Schlussteil gab es sogar Szenenapplaus.

Der befreite Sexus

Rasch, unsentimental und wie von einem Dämon getrieben dirigiert Gabriel Feltz die populäre Ouvertüre – und das Sinfonieorchester Basel macht bis zum guten Ende dieser Opéra comique höchst engagiert mit. Man spielt die ursprüngliche Fassung (Spieldauer gegen 145 Minuten) mit auf ein Minimum reduzierten gesprochenen Dialogen ohne die von Ernest Guiraud nachkomponierten Rezitative, die das Stück falsch in Richtung Grand Opéra zerren.

Im Orchester wird kurz und knapp artikuliert, aber auch sinnlich gespielt, etwa wenn Carmen mit ihrem Gesang, ihrem Hüftschwung und den (im Orchestergraben gespielten) Kastagnetten Don José den Kopf verdreht. Wunderbar fügt sich das Blechbläsermotiv des Zapfenstreichs, der den verliebten Sergeanten zum Dienst zurückruft, in Carmens Tanzlied ein. Im Kartenduett des dritten Akts gab es einige Wackler, ansonsten glückte die Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne.

Tanja Ariane Baumgartner, vor vier Jahren die Titeldarstellerin von Othmar Schoecks «Penthesilea» am selben Haus und danach Geschwitz in Calixto Bieitos «Lulu»-Inszenierung, füllt diese Partie mit jeder Faser ihres Körpers und jedem Nerv ihrer Stimmbänder aus: betörend satt ihr Mezzosopran in der Tiefe, glühend in der Höhe und unmerklich in den Registerübergängen – und dabei nie ins Vulgäre kippend. Carmen ist ein extrem liebesbedürftiges Wesen jenseits der gesellschaftlichen Konventionen, das sich in befreiter Sexualität den Männern hingibt. Aber sie ist keine männermordende Supervagina. Dass sie nach ihren eigenen Worten «nicht lügt», wird ihr zum Verhängnis, und Tanja Ariane Baumgartner bringt diese radikale Ehrlichkeit sich und der Männerwelt gegenüber packend zur Erscheinung.

Ein Gegentyp ist Micaëla, die ihrem Freund Don José die Botschaft der Mutter überbringt, er möge doch das brave Mädchen heiraten. Sie taucht selbst im verminten Gelände des Schmuggler-treffpunkts unverhofft auf, wo sie sich auf dem Rücksitz eines Cabriolets versteckt. Später wird eine der Schmugglerinnen ihre Handtasche ausplündern – Frauensolidarität zählt hier nicht.

Bieito zeichnet die von Bizet mit herrlicher Melodik ausgestattete Micaëla nicht als naives Landei, wie man es in anderen Inszenierungen gesehen hat. Auch für Micaëla ist Liebe untrennbar mit Sex verbunden, was sie nicht daran hindert, ein Holzkreuz auf den Mercedes zu stellen. Diese junge Frau mit Brille, Stöckelschuhen und Pferdeschwanz ist eine leidenschaftliche Liebhaberin und eine veritable Alternative zur feurig-animalischen Carmen, zumal sie von Svetlana Ignatovich mit ihrem bis ins hohe H angstfrei geführten Sopran fesselnd gesungen und gespielt wird.

Don José ist eine Tenorpartie, die weder dem Fach des Heldentenors noch dem des lyrischen Tenors zuzuordnen ist, sondern irgend etwas dazwischen oder über diesen Kategorien darstellt. Zum ersten Mal konnte man den deutschen Tenor Will Hartmann, ursprünglich ein Bariton, am Theater Basel hören, und er liess keinen Zweifel an seinem sängerischen Format aufkommen. Das war intonatorisch tadellos und sängerisch wie darstellerisch von einer unbedingten Leidenschaft geprägt, die von Anfang an überzeugte.

Der bestrafte Sieger

Sein Widersacher Escamillo ist im Männer-Zweikampf wie in der Arena der Sieger, am Ende aber der Verlierer – ersticht doch Don José die von beiden geliebte Carmen trotz der Warnung ihrer Freundinnen. Eung Kwang Lee führt seinen gepflegten Bariton gewinnend und ohne übertreibendes Pathos durch diese Partie. Obwohl Bizet diesen Charakter als eitel und überheblich bezeichnet, will der Katalane Calixto Bieito, darin ganz Patriot, mit dieser Rollenzeichnung offensichtlich keine Karikatur des spanischen Stierkämpfers zeigen.

Trotzdem darf man hoffen, dass die Berufsgattung des Toreros nach dem katalanischen Verbot dieser grausamen Stierabschlachtungen vor johlendem Publikum bald in ganz Spanien und darüber hinaus der Vergangenheit angehören wird. Bizets «Carmen» kann man ja trotzdem weiterspielen. Die ehemaligen Stierkämpfer würden sich als Statisten auf der Opernbühne bewähren.