Traumdeutungen für Novizen

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (21.03.2006)

La Favorite, 19.03.2006, Zürich

Opernhaus Zürich Nach 100 Jahren Abwesenheit ist Gaetano Donizettis «La Favorite» zu sehen. Die Aufführung überzeugt nur musikalisch.

Aldi-Fahrer und Preisvergleicher aufgepasst: Die neuste Zürcher Opernproduktion ist ein Fest für Sparer, denn zu sehen gibt es kaum etwas, dafür umso mehr zu hören: Kaufen Sie sich also ungeniert einen Hör- oder Säulensitz für 29 Franken (der Parkettplatz kostet 230) und erleben Sie dennoch zwei Opernwunder: die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova und den Dirigenten Mark Min kowski mit dem Zürcher Orchester. Als Zugabe - oder nennen wir es für einmal Bonusmaterial - gibt es noch einen bravourösen Bass und einen akzeptablen Tenor zu hören. Erspart bleibt der Ärger über hässliche Bühnenbilder, in denen die Handlung nicht vom Fleck kommen will, da der Regisseur blind der Musik vertraut. Die ist aufregend, aber lenkt das Geschehen dramaturgisch etwas ungeschickt.

Gespielt wird Gaetano Donizettis 1840 uraufgeführte Oper «La Favorite». Ein Drama um den Mönch Fernand, der sich in die Adlige Léonor verliebt, aus dem Kloster in ihre Arme flieht und reuig ins Kloster zurückkehrt, nachdem er erkannt hat, dass seine Geliebte die Mätresse des Königs ist. In der italienischen Fassung hat die Oper dank singulären Interpreten und einer berühmten Arie etlichen Bekanntheitsgrad erreicht, die französische Fassung ist ausserhalb Frankreichs erstaunlich unbekannt geblieben. Und damit die Zürcher Aufführung auf dem Blatt schon im Voraus ein Ereignis war, verpflichtete Intendant Alexander Pereira den französischen Barockspezialisten Mark Minkowski, der auch schon mit Offenbach Erfahrung gesammelt hat. Und ganz so weit von Offenbach ist diese französische «Favorite»-Fassung nicht entfernt.

Man staunt von der ersten bis zur letzten Minute über die Klangfülle, die Minkowski aus dem Orchester hervorzaubert. Unheimlich die Akzente, die Beredtheit, der Schwung, die tiefe Musikalität und vor allem der Glaube, dass diese Partitur von A bis Z grosse Musik ist - selbst die Ballettmusik. Und sie ist es auch - schade, wird dazu getanzt … (Choreografie Avi Kaiser).

Aber leider kann aus dem Sängerensemble nur eine Minkowskis Ideen aufnehmen und stimmlich umsetzen: Vesselina Kasarova in der Titelrolle. Keine Phrase, die in Kasarovas sprechendem Gesang nicht sprachlich wohl ausgestaltet daherkommt und doch voller Emotionen ist! Fabio Sartori als Tenorpartner singt wohl schöne Linien, ja da bebt es innerlich mit, aber beweglich ist seine Stimme nicht - und zu Beginn ist sie gar einförmig. Carlo Colombara (Balthazar), Roberto Servile (Alphonse XI) und Jaël Azzaretti (Inès) vervollständigen die Besetzung.

Keiner der genannten scheint sich in der Inszenierung von Philippe Sireuil - er inszenierte letzte Saison in Zürich «Bohème» - richtig wohl zu fühlen. Er traut der Geschichte nicht ganz, versucht den viel gesehenen Kunstgriff mit der Traummetapher: Doch was bringts, wenn Fernand die Geschichte nur träumt? Das Publikum muss sie ja doch sehen. Als Traumdeuter braucht keiner Studienleistungen in Psychologie erbracht zu haben: Bedeutungsschwangere Farben, etwas Schiffs- und Fischsymbolik da, Spiegelbilder hier (Bühne Vincent Lemaire) - und eine hausbackene Umsetzung von durch die Partitur vorgegebenen Szenen. Gegen Schluss der Aufführung kam bei der Premiere ein Schiff brennend vom Kurs ab und so wurde aus einer durch die Musik stimmungsvoll gezeichneten Szene Momente der Lächerlichkeit, die vom Publikum laut kommentiert wurden. Auf dem Hörplatz wusste wohl man nicht mal, warum plötzlich gelacht wurde, dafür konnte man sich dort sicher auf die Musik konzentrieren.