Selbst die Freude kommt ans Licht

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (20.12.2011)

Carmen, 18.12.2011, Basel

Regisseur Calixto Bieito holt Sex und Gewalt aus der «Carmen». Aber er kann noch mehr, wie sich im Theater Basel zeigte.

Die Röcke kurz, die Triebe nieder und die Männer - gelinde gesagt - machoid. Der spanische Regisseur Calixto Bieito bringt gern an die Oberfläche, was in zwischenmenschlichen Beziehungen meist unterschwellig brodelt: Sex und Gewalt. Wer nicht weiterweiss, wird handgreiflich. Doch was fängt ein Regisseur wie Bieito mit einer Oper an, in der an sich schon Sex und Gewalt regieren? Wie Bizets «Carmen», wo eine schöne Zigeunerin Männer verführt und die Liebe auskostet bis auf den letzten Tropfen. Koste es, was es wolle.

Zunächst blieb einem das verborgen, denn bei Bieito ist Carmen erwartungsgemäss weniger lasziv als obszön. Sie leckt Brillen ab, fasst an Unterleiber, reibt nackte Männerhaut, und man fragt sich, warum die Männer ihr derart auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, wo sie die schnelle Triebabfuhr doch viel einfacher haben könnten.

Bizets Musik steht dazu im Widerspruch: Sie wogt und wellt aus dem Orchestergraben, in schöner Theatermanier gespielt vom Sinfonieorchester Basel und dirigiert von Gabriel Feltz. Trällernd lässt sie Carmen eben den Brigadier Don José (etwas durchzogen: Will Hartmann) um den Finger wickeln, eher wiegend, als dass sie mit Pauken und Trompeten über ihn herfallen würde. Und in Tanja Ariane Baumgartners Timbre scheint tatsächlich etwas von der unwiderstehlichen Verführungskraft Carmens auf. Vielleicht etwas stark gestützt und geschliffen geraten ihre Melodien, doch die Stimmfarbe ersetzt locker eine wiegende Hüfte, ist dunkel, schmiegsam, verführerisch.

Meisterhafte Interpretationen

Nicht nur die Protagonistin, auch die meisten anderen Rollen sind stimmlich meisterhaft getroffen. Etwa der Torero Escamillo (Eung Kwang Lee), dessen Bariton die ganze Galanterie seiner Rolle in sich vereint. Anstrengen mag sich Escamillo stimmlich nicht - ist nicht die ganze Welt sowieso bloss eine Arena mit ihm als schillerndem Helden?

Und wenn die Dorfschönheit Micaëla beherzt nach Sevilla stöckelt, um ihre Jugendliebe Don José wieder auf den rechten Weg zurückzubringen, dann singt die Sopranistin Svetlana Ignatovich so klar und rein und voll von unerschütterlichem Jungmädchenglauben, dass man geschlossenen Auges die Oper besser verstehen könnte als mitsamt dem Bühnengeschehen.

Glücklicherweise wächst die Inszenierung immer mehr über Anzüglichkeiten vor ästhetischem Hintergrund hinaus (Bühne: Alfons Flores), und auch Bieito überrascht einen erst nach und nach. Nicht mit dem Schlussbild im vierten Akt, in dem Don José die tote Carmen wie eine überdimensionierte Puppe hinter sich herzieht (erst jetzt gehört sie ihm wirklich). Ja, nicht einmal damit, dass der Regisseur innerhalb der Geschichte kunstvoll kleine Nebenhandlungen inszeniert, etwa die Hassliebe der beiden Schmugglerinnen Mercédès und Frasquita (virtuos gespielt von Cordelia Weil und Debora Leonetti).

Nein, es ist der Jubelchor zu Beginn dieses Aktes, der einen beinahe umhaut. Da steht das Volk (alias Chor sowie Knaben- und Mädchenkantorei Basel), zurückgehalten von einem über die Bühne gespannten Seil, und jubelt ins Publikum hinaus, den vermeintlich vorbeiziehenden Toreros und Matadoren zu.

Und plötzlich ist es, als verselbstständige sich der Jubel. Als müsse er sich seinen Weg aus der Mitte der Masse an die Oberfläche bahnen. Eine Freude um der Freude willen - auch sie kann offenbar unterschwellig zwischen den Menschen brodeln. Und Regisseur Calixto Bieito bringt in seiner Inszenierung auch sie ans Licht.