Lebensnahe, hoch emotionale Carmen

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (20.12.2011)

Carmen, 18.12.2011, Basel

Regisseur Calixto Bieito erzählt Bizets Erfolgsoper am Theater Basel in klar und packend

Allein stehen sie da in der Arena, Carmen und Don José, auf sich selbst zurückgeworfen. Don José bekniet sie, mit ihm zu gehen. Stolz weist sie ihn zurück. Die Liebe ist in Hass gekippt. Die Luft ist förmlich gefüllt mit Hass. Don José drückt Carmen die Faust in den Unterleib, sie schreit auf. Er zieht das Messer, schneidet ihr den Hals durch, zerstört die ungestüme Freiheit – und bleibt als Gebrochener, Verzweifelter zurück.

Ein Bild, das in seiner ganzen Härte auch Poesie hat; ein tief ergreifender Schluss einer starken Inszenierung von Georges Bizets populärer Oper «Carmen». Calixto Bieito, der das Publikum mit seiner drastischen, auch blutigen Bildsprache immer wieder spaltet, hat seine «Carmen» von 1999 ans Theater Basel gebracht und hier neu einstudiert, die Figuren neu ausgeleuchtet. Seine «Carmen» hat nichts an Kraft verloren, ist vital und von aufwühlender Emotionalität. Das Publikum war begeistert.

Poetische, eindrückliche Bilder

Bieito erzählt Bizets Oper, die Geschichte der frei lebenden Zigeunerin Carmen, die von Don José aus Eifersucht ermordet wird, stringent, klar und in grossartigen Bildern. Er hört genau auf die Musik. Das zeigt sich gerade in der Detailarbeit.

Er verortet die Handlung in einem grossenteils verarmten Spanien nach Franco. Zwei Welten prallen aufeinander. Einmal die straff hierarchisch militärische. Die Soldaten sind Marionetten. Wer sich auflehnt, wird gequält bis zum Tod, ohne dass einer Notiz nimmt. Aber kaum tauchen Frauen auf, wird aus den Soldaten eine geile Horde. Die andere Welt ist die der Armen, der Zigeuner, der Schmuggler. Sie ist genauso patriarchalisch strukturiert, genauso roh und brutal. Auch hier regieren Macht, Gewalt und Triebe.

Bieito setzt den Stierkampf als Symbol für diese Welt, die die Zivilisation nicht menschlicher macht. Der bestechend einfache Bühnenraum ist eine gleichsam ins Dunkel eingelassene Arena. Im dritten Akt, der Schmugglerszene, dominiert der Stier als Zeichen von vitaler Kraft und Trieb das Bild – in der Form des die spanischen Landschaften prägenden Osborne-Stiers. Ein Nackter bestreitet einen imaginären Stierkampf. Nackt ist, wer sich in diesen Kampf auf Leben und Tod begibt. Mit solch poetischen Bildern, zu denen Hermann Münzer mit seiner Lichtregie viel beiträgt, dringt Bieito ins Innere der «Carmen»-Geschichte. Die Autos, in denen die Schmuggler heranfahren, erscheinen im nachtblauen Licht wie Panzerfahrzeuge im Krieg – im Krieg ums Überleben.

Eine Anarchistin im Leben

Bei Bieito ist Carmen eine ebenso starke wie verletzliche Frau, eine Anarchistin, die frei wählt, wen sie liebt, mit wem sie Sex hat. Sie lebt aus dem Instinkt, und das in vollen Zügen. Sie spielt mit der Gier der Männer, todesmutig lässt sie sich nie einschüchtern. Tanja Ariane Baumgartner gibt der Carmen enorme Energie und Emotionalität. Mit ihrem vollen schönen Mezzosopran gestaltet sie jede Facette der Figur – eine Carmen von grosser Strahlkraft.

Präzis gezeichnet ist, wie Don José der Carmen verfällt, ebenso das Gewaltpotenzial, das in ihm lauert. Feigheit und Brutalität verknüpfen sich in Don José. Tenor Will Hartmann gestaltet die Figur auch stimmlich packend, teilweise mit schönem Schmelz – forciert er, klingts blechern. Micaëla, Don Josés Verlobte aus seinem Dorf, ist hier nicht das brave Mädchen. Svetlana Ignatovich gibt mit markantem Sopran eine selbstbewusste junge Frau, die um die verlorene Liebe von Don José kämpft. Stimmlich und im Spiel ist Eung Kwang Lee ein ausgezeichneter Escamillo, bis in die Fingerspitze der furchtlose selbstverliebte Torero.

Gabriel Feltz’ Dirigat entspricht Bieitos Regie. Er spitzt die Härten zu in Bizets Musik zu, wählt schnelle Tempi. Teils leiden darunter feine farbliche Abstufungen. Die Dramatik aber packt. Das Sinfonieorchester Basel geht zupackend und meist präzis mit. Ein Paradestück ist der Toreromarsch. Der Theaterchor, die Knaben- und Mädchenkantorei laufen zur Hochform auf: die Massen im Festtaumel, im dem neben Jubel latente Aggressivität mitschwingt.

Bieitos «Carmen» ist eine lebensnahe und lebenspralle «Carmen». In ihrer direkten Emotionalität ist sie wirklich spanisch.