Frivol von der Tiefgarage bis zur Dachterrasse

Marianne Mühlemann, Der Bund (31.12.2011)

Orphée aux Enfers, 29.12.2011, Bern

Mit Offenbachs Buffo-Oper «Orpheus in der Unterwelt» in der Regie von Laura Scozzi bringt das Stadttheater Bern zum Jahreswechsel eine temporeiche Persiflage auf die Bühne. Das in den Hauptrollen hervorragend besetzte Ensemble zeigt sich von seiner besten Seite.

Die Fassade eines Hochhauses versperrt die Sicht auf den Himmel. Geordnete Fenster, gerichtete Türen. In der Mitte der Lift. Alles hat hier seine Ordnung. Nur in den Rabatten vor dem Eingang herrscht ein wenig Anarchie: Da wächst der Klatschmohn wild und wuchert das Gras in die Höhe. Und das ist ein gutes Zeichen.

Scheu erhebt die Kunst ihre Stimme, eine Klarinette, eine Oboe. Mit ihrem kammermusikalischen Singsang lotsen die Bläser die Fassade in die Höhe und geben freie Sicht auf vier Kammern. Oben zwei Schlafzimmer, unten ein Coiffeursalon und das Sozialamt. Und während Dirigent Dorian Keilhack Offenbach im Orchestergraben in Gang setzt, mit viel Ton und zuweilen etwas behäbig, kommt die Maschinerie auf der Bühne in Gang.

Der Schein trügt. In Ordnung ist da nichts. In der obersten Etage kuschelt die schöne Coiffeuse Eurydike (Anne Florence Marbot) mit Aristeus (Matthias Grätzel), diesem windigen Poeten mit Schäferhund. Breitspurig und mit Kalkül lässt er die (Damen-)Welt an seinen Gefühlen teilhaben. Ein Schlitzohr: Wie der von seinen süssen Bienen und goldenen Rosen schwärmt, in bewundernden Ahs und Ohs Komplimente macht, da müssten einem die Ohren läuten. Doch der molligen Dame vom Sozialamt wirds schafwollenwarm ums Herz. Und so rückt sie - zum triumphierenden Crescendo des Orchesters - die klingende Münze raus.

Bitterböses Liebesspiel

Auch Orpheus, der Gatte der Eurydike, hat eine Geliebte. «Wir müssen reden», eröffnet sie ihm nach einem Streit. Der Berufsmusiker ist ihr zu langweilig. Und auch sein Spiel erträgt sie nicht. Zum Wahnsinn bringt sie das Gefiedel, das er ihr sogar im Coiffeursalon um die Ohren geigt, während sie einer Kundin das Haar shampooniert. Die ergreift mit nassem Kopf die Flucht, nachdem die Coiffeuse sie in ihrem Ärger fast zu Tode frottiert hat.

Die Persiflage in diesem bitterbösen Liebesspiel nimmt von Minute zu Minute dreistere Züge an. Herrlich, was sich Regisseurin Laura Scozzi hat einfallen lassen. Und das Berner Ensemble hält im Tempo mit. Gegen den putzigen Orpheus ist der protzige Aristeus unwiderstehlich. «Mit dir würde ich bis in die Hölle gehen», sagt Eurydike verliebt. Und fährt ihren Arm wie eine Schlange zur Umarmung aus. Im Graben grollt das Orchester, und in der Ferne hört man den Chor von Fluch und Schande singen. «In die Hölle? Kannst du haben», sagt der Schäfer und verwandelt sich ruck, zuck in Pluto, den Unterweltgott. Jetzt geht der Betrieb erst richtig los. Bis ins Detail ausgeklügelt ist die Szenerie (Bühne Juliette Blondelle), frisch und frech sind die Einfälle, die hier als Überraschungspointen in das farbenprächtige Spiel eingeflochten sind. Das bringt Offenbachs Musik in den besten Momenten zum Moussieren. Ansonsten setzt Keilhack eher auf deutschen Sekt. Die Musik perlt zuweilen etwas behäbig. Doch eigentlich passt das bestens. Denn hier wird bodenständig Deutsch gesprochen und gesungen (wieso es dennoch eine deutsche Synchronisation braucht, ist unklar). Keinen Aufwand hat man gescheut, das französische Original zu übersetzen.

Lustvoll ist das Resultat und auch in seinen Schwachstellen gekonnt: Die unfreiwilligen Sprachakzente werden unforciert in die Situationskomik eingebaut: Jupiter (Arman Arapian) meldet sich bei seinen Mitbewohnern im Olymp ab für einen Deutschkurs.

Olympisches Altersheim

Das ist doppelt komisch: Denn dieser Olymp ist eigentlich ein Altersheim. Im Obergeschoss des Hochhauses sind die Götter einquartiert. Da wirbelt der Merkur mit seinen Neuigkeiten herum (Tomi Kimmo Kuusisto) und sorgt für Leben in der Götterbude. Deren Bewohner sind weisshaarige Greise in Finken, die sich mit Rollatoren, Rollstühlen und Bigla-Ständern durch die Langeweile von Nektar und Ambrosia schleppen. Herrlich kauzig sind die schrullige Juno (Fabienne Jost), die hornbewaffnete Diana (Rebekka Maeder), der geflügelte Cupido (stimmlich nicht immer ganz verständlich: Stephanie Ritz). Verstörend die Bilder, welche das schlurfende Kollektiv heraufbeschwört. Das Ganze erinnert an Beckett oder Maguy Marins Choreografie «May B.». Und tragikomisch ist das auch: Über der göttlichen Dachterrasse hängt bereits das Schild «Attraktive Immobilie bald frei».

Zweidreiviertel Stunden vergehen im Flug. Der Abend, der durch die öffentliche Meinung (Claude Eichenberger) moderiert wird, begeistert durch eine Fülle von Einfällen, die allerdings gelegentlich ins Kraut schiessen wie der wilde Klatschmohn vor dem Haus. Dass Superman am Götterhimmel seine Runden dreht, dass John Styx (Jan-Martin Mächler) mit einem Auto einfährt oder bewaffnete Polizisten im Coiffeursalon eindringen, ist etwas zu viel des Guten. Hingegen drückt man ein Auge zu, wenn Videoflugzeuge über die göttliche Dachterrasse donnern, so nahe, dass Jupiter den Heiligenschein herunterklappen müsste, trüge er denn einen. Lieber ein paar raffinierte Ideen zu viel, als ein paar zu wenig. Langweilig wirds in keinem Moment an diesem Abend.

Das in den Hauptrollen hervorragend besetzte Berner Ensemble zeigt sich von seiner besten Seite und jongliert mit den ironischen Brechungen, dass es eine Wonne ist. Fast zehn Jahre hat es gedauert, bis man Offenbachs Opéra bouffon am Stadttheater wieder sehen kann. Die letzte Inszenierung wurde ausgebuht. Dass es zeitgemäss geht und dennoch mit raffiniertem Witz, ist hier zu erleben. Eine heitere Alltagspersiflage, in der an den Göttern die Doppelmoral der Gesellschaft blossgestellt wird - das ist auch nach Silvester empfehlenswert.