Oliver Meier, Berner Zeitung (31.12.2011)
Erfrischender Ansatz, mässige Umsetzung: Das Stadttheater bringt Offenbachs Klassiker «Orpheus in der Unterwelt» mit einem soliden Ensemble auf die Bühne.
Und dann der Cancan, der finale «Höllengalopp», auf den man gewartet hat: Unten im Graben schlägt Dirigent Dorian Keilhack den Zweivierteltakt, oben auf der Bühne proben abgehalfterte Götter den Spassexzess. Jupiter (Armand Arapian) führt mit seiner Gefolgschaft eine Art Ententanz auf, in einer Unterwelt, die deutliche Züge einer prosaischen Tiefgarage trägt. Damit nicht genug: Juno (Fabienne Jost), die resolute Obergöttin, entert mit einer E-Gitarre die Bühne. Kein Zweifel: So rockig war Offenbachs Höllenschlager im Finale von «Orpheus in der Unterwelt» noch nie zu hören. Aber auch kaum je so wenig packend und stilvoll. Ist das nun originell oder schlicht verschenkt, durch eine Regie, die sich vor Ideen kaum zu retten vermag? Die Frage stellt sich nicht zum ersten Mal während dieser Inszenierung von Laura Scozzi – einer Koproduktion mit Nürnberg, Marseille und Bordeaux. Die gebürtige Mailänderin hat sich als Choreografin an der Seite von Opernregisseur Laurent Pelly einen Namen gemacht. Zu Pellys legendären Arbeiten gehört die «Orpheus»-Inszenierung 1997 in Lyon. Ein wenig vom Geist jener Produktion scheint auch in Bern mitzuschwingen: Im französisch leichten, transparenten Orchesterklang. In der kreativen, körperbetonten Personenregie und Figurenzeichnung. Vor allem aber in der erfrischenden Art, wie die Regisseurin das Geschehen ins Hier und Heute transferiert – im Wissen, dass Offenbach seine Parodie des Orpheus-Mythos als bissige Satire auf die Gegenwart verstand und die herrschende Doppelmoral aufs Korn nahm.
Eurydike als Coiffeuse
Scozzi siedelt das Ehedrama von Orpheus und Eurydike hinter den Fassaden eines mehrstöckigen Hauses an (Bühne: Juliette Blondelle) und ergänzt sie mit ironisch durchchoreografierten Rückblenden im Schnelldurchlauf. Im Parterre – gleich neben dem Sozialamt der Stadt Bern – betreibt Eurydike (Anne-Florence Marbot) einen überaus rosaroten Coiffeursalon. Ihr Liebhaber, der seifige Sozialhilfebetrüger Aristeus (Matthias Grätzel), wohnt mit seinem Schäferhund Zerberus gleich darüber, Tür an Tür mit der Geliebten von Orpheus, dem Möchtegerngenie an der Geige (Andries Cloete). Kein Wunder, dass sich das zerstrittene Ehepaar nach den Schäferstündchen vor dem Lift begegnet. Nach der Entführung Eurydikes muss Orpheus auf Druck der «Öffentlichen Meinung» (Claude Eichenberger) im Olymp seine Gattin zurückfordern. Hier – im obersten Stock des Hauses – dämmern Jupiter und seine Entourage vor sich hin. Die Regisseurin zeigt sie als demente, altersstörrische Göttergreise in einer Atmosphäre zwischen Klinik und Altersheim – und findet starke, grell-groteske Bilder an der Grenze der Political Correctness.
Abfallende Spannung
Leider fällt die Spannung vor allem im zweiten Akt immer wieder ab – trotz eines soliden Ensembles, aus dem neben der herrlich hysterischen Anne-Florence Marbot auch der Stadttheaterchor herausragt. Zwar üben sich die Darsteller im Daueraktivismus, dennoch wirkt die Produktion letztlich etwas behäbig, wozu auch der kontrollierte Auftritt des Berner Symphonieorchesters beiträgt. Und öfters bremst Scozzi mit ihren (video-)technischen Spielereien und ihrer Überfülle an Ideen die Dynamik eher ab. Weniger wäre in dieser Inszenierung mehr – denkt wohl auch das Berner Premierenpublikum und begnügt sich mit mässigem Applaus.