Herbert Büttiker, Der Landbote (25.06.2012)
Die Faust-Thematik passt als Spiel zwischen Himmel und Hölle auf den Klosterhof. An den St. Galler Festspielen spielt «La damnation de Faust» von Hector Berlioz aber vor allem im Zirkus.
Mantel, Hut, grosse Aktentasche – müden Schritts und allein auf weiter Flur kommt der Mann daher, ein Ausgebrannter. Es ist Faust. Die Bratschen stimmen eine zaghaft freundliche Melodie an («Andantino placido»), und Berlioz lässt den erschöpften Helden sogleich einstimmen. Der Winter ist vorbei, die Natur hat sich verjüngt, Hoffnung keimt. Da steht auch der Maibaum, da stürmen die Schulkinder über die Bühne und spielen ihr Himmel-und-Hölle-Hüpfspiel. Auch Faust versucht sich. Ist die Jugend zurückzugewinnen? Wie der Regisseur Carlos Wagner diese Frage in den weiten Klosterhof, vor die imposanten Türme der Kathedrale, in den farbigen Abendhimmel «zeichnet», hat seine Magie, und man denkt, es muss ein Geschenk sein, an diesem Ort inszenieren zu können, ein Geschenk auch, diesen Stoff (nach Goethe, aber zum grossen Teil im Wortlaut des Komponisten) und diese sprechende, emotional überschwängliche und malerische Musik als Vorgabe zu haben. Aber es ist auch eine schwierige Aufgabe.
Imponierendes Aufgebot
Die Höhe des Anfangs hält der Abend dann nicht immer durch. Das szenisch-musikalische Puzzle der «Légende dramatique», die eine komplizierte Entstehungsgeschichte hat und von Berlioz im Autograf als «Opéra de concert en 4 parties» bezeichnet wurde, ist nicht auf zündende Operndramatik angelegt, und der Fokus liegt nicht auf der sängerischen Aktion der Protagonisten, sondern im episch-lyrischen Fluss der Musik insgesamt, fast mehr noch auf dem Orchester als auf den Stimmen. Noch nie in der Geschichte dieser Festspiele war der Nachteil des im Unterbau der Bühne verborgenen und akustisch nur über Lautsprecher präsenten Orchesters so eklatant wie hier, wo es sich sozusagen auch um eine «Symphonie fantastique» handelt – mit der Beteiligung formidabler Vokalkräfte allerdings.
Das Aufgebot unter der Leitung von Sébastien Rouland imponierte: das Sinfonieorchester in grosser Besetzung für die immer wieder spektakuläre Instrumentation, die Vereinigung der St. Galler und Winterthurer Theaterchöre und des Prager Philharmonischen Chors für vielfältig klangvolle Auftritte als Bürger, Studenten und auch Dämonen. Hinzu kommen wenige, aber herausfordernde Partien. Gilles Ragon gibt den melancholischen Titelhelden mit einem Tenor, dessen tremolierendes Schweben der weiten Phrasen die Passivität und Gebrochenheit der Figur nicht nur betont, sondern auch in ermüdende Monotonie umschlagen lässt. Margarete, das Objekt seiner Begierde, ist mit Elena Maximova dagegen im Klang ein vollblütiger Mezzosopran und als Figur eine erotisch attraktive Erscheinung, zuerst im knappen Kostüm der Zirkusartistin, dann aber in verschiedener «Verkleidung» in der schwarzen Robe der Bürgertochter, im weissen Brautkleid und schliesslich mit riesigen Engelsflügeln auf der Schaukel in der Zirkusmanege.
Was für eine Welt!
In was für eine Welt ist da Faust geraten? Das wird nach und nach immer deutlicher. Méphistophélès, dem Mirco Palazzi mit sehr agilem und satt fundiertem Bass das musikalische Format gibt, erscheint im Qualm der Unterwelt und von kriecherischen Dämonen begleitet (die Tanzkompanie des Theaters) in schwarzem Frack und Zylinder, wie eben so ein Theaterteufel erscheint. Aber dann zeigt sich, dass er nicht Faust zu lenken weiss, sondern besonders auch Margarete seine Anweisungen befolgt. In den Schlussszenen steht er dann mit rotem Zylinder in einer Manege als Zirkusdirektor und Dompteur. Es kommt zur Höllenfahrt («La course à l’âbime»). Berlioz imaginiert sie mit galoppierenden Streichern, verängstigter Solo-Oboe und bösen Klängen des Blechs orchestral grossartig, aber wie ist sie darzustellen? Wir sehen Dompteur Méphisto Faust als Zirkuspferd im Kreis herum treiben, bis er hinfällt. Und die Hölle selbst: Das ist dann das zum Hamsterrad gewordene Liebesnest, in dem Faust ewig weiter läuft.
Margarete, nur ein Werkzeug
Die Welt als Zirkus. Das ist wohl nicht mehr neu, aber die Metapher beginnt in diesen Schlussszenen zu leuchten und wirft ihr Licht auch zurück auf die vorausgegangenen. Ob Berlioz dem Inszenierungsteam – neben Carlos Wagner Rifail Ajdarpasic für die aufwendige Bühne, Ariane Isabell Unfried für die effektvollen Kostüme und Guidon Petzold für das Bühnenlicht, das freilich im ersten Teil des Abends gegen das Tageslicht noch einen schweren Stand hat – auf die Schulter geklopft hätte? Dass Margarete nur Méphistos Werkzeug, ihr «Meine Ruh ist hin» nur eine Theaterprobe und der himmlische Schluss des Werks, die «Apothéose de Marguerite», für die der Komponist immerhin zehn Harfen aufgeboten haben wollte, nur eine Zirkusnummer sein sollte, dürfte ihn wohl eher entsetzt haben. Wunderbar ins Bild gerückt, aber sehr ratlos standen auch die Türme der Kathedrale neben dieser Szene.