Mephisto lässt alle tanzen

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (25.06.2012)

La Damnation de Faust, 22.06.2012, St. Gallen

Hector Berlioz' «La damnation de Faust» an den St. Galler Festspielen

Eine Oper ist «La damnation de Faust» nicht. Hector Berlioz bezeichnete die in den Jahren 1845/46 geschriebene Komposition als «Légende dramatique». Zwar lehnt er sich dabei deutlich an den ersten Teil von Goethes «Faust»-Tragödie an, aber das Werk enthält auch einige oratorische Elemente, die sich einer szenischen Realisierung nicht ohne weiteres fügen. Eine Bühnenaufführung gab es zu Berlioz' Lebzeiten nie, eine solche fand erstmals im Jahr 1910 in Paris statt.

Der jüngste Versuch, «La damnation de Faust» für die Bühne zu reklamieren, ereignet sich diesen Sommer im Rahmen der St. Galler Festspiele, die nun bereits zum siebenten Mal durchgeführt werden. Die Bühne ist im konkreten Fall eine Freilichtbühne, die sich im Klosterhof, direkt vor der grossartigen barocken Fassade der St. Galler Kathedrale, befindet. Damit stecken wir mitten in der Problematik einer Open-Air-Aufführung. Das von Sébastien Rouland geleitete Sinfonieorchester St. Gallen ist auch dieses Jahr wieder, unsichtbar für das Publikum, unter der Bühne aufgestellt, sein Klang wird über Lautsprecher verstärkt. Natürlich nimmt man unter solchen Bedingungen einiges in Kauf, aber im Vergleich zu einer Aufführung in einem geschlossenen Raum hört sich das klangliche Resultat doch sehr beschnitten an. Dies betrifft hauptsächlich die Lautstärke-Amplitude; aber auch etliche Delikatessen dieser raffiniert ausgearbeiteten Partitur kommen nicht richtig zur Geltung.

Dafür ist das, was man auf der Bühne zu sehen und zu hören bekommt, sehr attraktiv. Carlos Wagner, der erstmals in St. Gallen inszeniert, lässt die Dreiecksgeschichte um Faust, Margarete und Mephistopheles fast immer vor einer grossen Menschenmenge spielen. Da sind einmal die sechs Gehilfen Mephistos mit ihren roten Narrenkappen, von der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen als quirlige Gesellen gespielt. Der grosse Chor, bei dem der Theater- und der Opernchor des Theaters St. Gallen, der Theaterchor Winterthur und der Prager Philharmonische Chor mitwirken, bevölkert die Bühne als Landleute, Soldaten, Studenten, Nachbarn, Teufel und Engel. Die Gruppen singen temperamentvoll und erzeugen je nach Standort stereofone Wirkungen. Ariane Isabell Unfried hat sie alle in Phantasiegewänder aus weissen, schwarzen und goldenen Farben gesteckt, was etliche Symbolkraft aufweist. Goldene Gewänder tragen beispielsweise die leichten Mädchen in Auerbachs Keller, aber auch Margarete trägt unter dem weissen Brautkleid ein neckisches goldenes Röckchen. Die breite, von links nach rechts ansteigende, aus mehreren Plateaus bestehende Bühne von Rifail Ajdarpasic ermöglicht eine abwechslungsreiche räumliche Aufteilung der Szenen.

Der Regisseur deutet die Handlung als Zirkusvorstellung, die von Mephisto als Impresario und Dompteur gelenkt und durchgepeitscht wird. In dieser Inszenierung ist auch Margarete eine willige Gehilfin Mephistos, kein Opfer, wie sie normalerweise gedeutet wird. Die abrupt beendete Liebesszene zwischen Faust und Margarete findet auf einem von Mephisto eingerichteten Zirkuspodest statt. Beim Höllenritt stülpt Mephisto Faust eine Pferdemaske über den Kopf und lenkt ihn an einem Seil. Und in der Schlussszene, die optisch nicht weniger kitschig daherkommt als musikalisch, ist es Mephisto, der die Schaukel, auf der Margarete sitzt, in den «Himmel» hochzieht. Faust ist dazu verdammt, in einem Hamsterrad an Ort zu drehen und ohnmächtig zuzusehen. Wahrlich eine schlüssige Deutung!

Unter den Solisten der Premierenbesetzung gehört die Palme dem Mephistopheles von Mirco Palazzi. Sein wandlungsfähiger Bariton passt sich den dramatischen Situationen mühelos an, kann einlullen, verführen, aber auch schroff abweisen und höhnisch triumphieren. Der Faust von Gilles Ragon ist vom Charakter her etwas weniger vielfältig, insbesondere in den Szenen der Verzweiflung überzeugt er nicht restlos. Seine Tenorstimme hat Glanz und wirkt, bis auf einige Spitzentöne, unverkrampft. Die Margarete von Elena Maximova begeistert in erster Linie mit ihrem strahlenden Mezzosopran. Ihre Rolle als Verbündete Mephistos kommt indes zu wenig zum Tragen, obwohl dies gerade der springende Punkt der Inszenierung ist.