Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (25.09.2012)
Mit einer Produktion von Leoš Janáčeks Oper «Jenůfa» hat Andreas Homoki seine Intendanz am Opernhaus Zürich eröffnet. Von Fabio Luisi und Dmitri Tcherniakov geleitet, wurde die Aufführung an der Premiere zu einem rauschenden Erfolg.
Der König ist tot, es lebe der König. Nach über zwei Jahrzehnten des Wirkens hat der Intendant sein Pult geräumt – und siehe da, das Opernhaus Zürich besteht weiter. Sogar sehr gut besteht es weiter. Zwar muss noch über Schutt gehen, wer dem Eingang zustrebt, aber dort wird er von einem roten Teppich empfangen und von flatternden Fahnen mit dem Aufdruck «offen». Die Treppen rund ums Haus sind wiederhergestellt und fein säuberlich gereinigt, auch drinnen ist das eine oder andere ersetzt. Alles neu macht dieser September: das Logo, bei dem sich einige Buchstaben wie hinter einen Vorhang zurückzuziehen scheinen, das Magazin, das nicht mehr auf Hochglanz herauskommt und attraktiv gestaltet ist, die vielen Drucksachen bis hin zu dem Leporello, der die gesamte Spielzeit 2012/13 im Kreditkartenformat präsentiert.
Zeitenwechsel
Und nun also der Paukenschlag, mit dem der neue Intendant Andreas Homoki und sein Team den Aufbruch am Opernhaus Zürich markiert haben: «Jenůfa» von Leoš Janáček – ein starkes Stück, ein starker Abend. Und ein Bekenntnis zu ästhetischen Prinzipien von Relevanz, etwa zur aktiven Pflege des Repertoires des 20. Jahrhunderts, zu Inszenierungen, die sich nicht mit Dekoration und der Erzeugung von Atmosphäre begnügen, sondern zu interpretierenden Aussagen vordringen wollen, nicht zuletzt aber auch zu hochstehenden musikalischen Ergebnissen. Das alles bei dieser «Jenůfa» nicht nur eingelöst, sondern formidabel gelungen.
Während sich der Zuschauerraum füllt, ist die Bühne schon offen und erleuchtet; sie zeigt nicht eine im mährischen Abseits gelegene Mühle, vor der Kartoffeln sortiert und Peitschen geschnitten werden, sondern eine nach dem dernier cri, nämlich im Stil der fünfziger Jahre ausgestaltete Maisonnette auf zwei Stöcken. Wie der neue Intendant ist Dmitri Tcherniakov, der Regisseur und Bühnenbildner des Abends, der gewiss vertretbaren Auffassung, dass die schreckliche Geschichte von «Jenůfa», wenn sie in der Ferne des vom Komponisten erdachten Schauplatzes spielt, folkloristisch wirke und nicht zu unseren Herzen vordringe. Weshalb auch die Kostümbildnerin Elena Zaytseva, so scheint es, von der Stange einkaufen ging, das aber mit Witz und Geschmack getan hat.
Den Zeitenwechsel führt die Inszenierung in aller Sorgfalt durch. Wenn der Tunichtgut Števa von der erfolgreich abgewendeten Rekrutierung zum Militär zurückkehrt und sich als der reiche Besitzer einer Mühle ins Licht stellt, ist in der Übertitelung just dieser Satz ausgelassen. Der Hirtenknabe Jano, den Jenůfa Lesen und Schreiben lehrt, ist in Zürich keine Hosenrolle, sondern eine Jana, ein Girl im Minijupe, das aber vermutlich doch schon lesen und schreiben kann. Und Laca, der verschmähte Liebhaber, ist nicht das aufgenommene Waisenkind, sondern der Hauswart, der mit seiner Bockleiter und dem Werkzeugkasten Türen und Fenster in Ordnung hält.
Dachboden des Unterbewussten
Das alles ist, im Grossen und Ganzen, noch nicht besonders aufregend, dennoch verfügt die Inszenierung über ein ganz einzigartiges Profil. Es ergibt sich aus der Präzision und der Intensität in der Zeichnung der auf der Bühne agierenden Menschen. Die Herrschaftsverhältnisse und die Hochspannung, die zwischen den Figuren herrschen, stellt Tcherniakov in aller Drastik heraus. Von Anfang an ist klar, dass der Haussegen in dieser von dreieinhalb Generationen bevölkerten Gesellschaft fürchterlich schief hängt, dass da nur mit dem Schlimmsten gerechnet werden kann. Nach der Rückkehr Števas von der Musterung bricht eine geräuschvolle Party aus, ist aber auch sogleich mit Händen zu greifen, dass es zwischen ihm und seiner von ihm schwangeren Jenůfa zu Ende ist – Pavol Breslik formt dieses Muttersöhnchen mit seinem hellen Tenor blendend aus. Nicht minder brillant der andere Tenor, Christopher Ventris, in der Partie des Laca, eines verlogenen, geradezu masochistisch veranlagten Schwachmatikers. Wenn sich im dritten Akt die beiden Herren als Bräutigame die Hand zu geben hätten, kennt die Peinlichkeit keine Grenzen.
Im Gegensatz dazu sind die drei Frauen der Geschichte ausnehmend kräftige Erscheinungen – und hier wird besonders deutlich, wie ausgeprägt Tcherniakov die Körpersprache aus der Musik heraus entwickelt. Dass für die Partie der alten Buryja Hanna Schwarz gewonnen werden konnte, stellt einen Glücksfall dar; die grosse Sängerin – am Anfang öffnet sie zu einem kleinen Violinsolo verführerisch die Arme – zeichnet den Weg von der Oma zur Grande Dame im Zustand der Demenz grossartig nach. Voll und ganz Zentrum der Aufführung bildet Michaela Martens als die erst herrische, später entsetzlich gebrochene Küsterin; stimmgewaltig, wie sie ist, geht sie an die Grenzen des Möglichen, lebt sie die vibrierende Musik Janáčeks mit jeder Faser ihres Bühnendaseins aus. Und dann Jenůfa: Kristīine Opolais verfügt nicht nur über einen Sopran, der sich geschmeidig nach vielen Farben hin öffnet, sie durchlebt auch das weite emotionale Spektrum dieser Partie ohne Schonung. In wilder Eifersucht stürzt sie sich auf den wankelmütigen Števa, voller Zartheit trägt sie, selber vor kurzem Mutter geworden, ihr kleines Kind, am Ende wandelt sie sich zur lebenden Statue.
Dass Jenůfas Kind von der Küsterin ins Eiswasser geworfen wird, mag Tcherniakov nicht glauben. Er fügt der zweistöckigen Wohnung eine dritte Ebene hinzu, den Dachboden des Unterbewussten, auf dem das dort versteckte Baby erfriert. Erst recht nicht kann der Regisseur dem Komponisten ins Happy End folgen; in der Tat wirkt es naiv und herbeigezwungen. Nach ihrer dick aufgetragenen, wenig glaubwürdigen Liebeserklärung an ihn schickt Jenůfa den ratlosen Laca in die Wüste, dann sitzen sie sich stumm gegenüber, die drei Frauen, die drei Schwestern im Schicksal sind.
Orchestrale Öffnung
Dass das alles so eindringlich wirkt, hat auch mit der Leistung des Orchesters der Oper Zürich zu tun, das fortan die wunderliche Bezeichnung «Philharmonia» (Geschlecht sächlich, Betonung unbekannt) tragen soll. Es wird in den ersten fünf von insgesamt zehn Vorstellungen von Fabio Luisi geleitet, der damit seine Visitenkarte als neuer Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich abgegeben hat. Vor allem in den Akten zwei und drei gewinnt das Orchestrale an Differenzierung, an Schärfe zum einen, an Wärme zum anderen, aber auch an rhythmischer Prägnanz. Im Kopfsatz dagegen stimmt noch einiges nicht, klingt das Orchester zu laut und gleichzeitig zu monoton, dringen zum Beispiel die bedrohlichen Repetitionen des Xylofons nicht durch und bleiben die motivischen Entsprechungen zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen zu wenig hörbar. Wie überhaupt dieser Akt in der Dynamik für den kleinen Raum des Zürcher Opernhauses eine Stufe zu hoch angesetzt ist; Starkton herrscht vor, auch bei dem von Ernst Raffelsberger vorbereiteten Chor, der sogar das Orchester zudeckt – da gibt es noch Potenzial. Ungeteilter Jubel für alle Beteiligten. Der Einstand ist gelungen, die Neugierde ungebrochen.