Auf zum wirklichen Leben

Fritz Schaub, Neue Luzerner Zeitung (25.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

Am Opernhaus Zürich feierte das erste Stück unter dem neuen Intendanten Premiere. Damit deutet sich nach der Ära Pereira ein Richtungswechsel an.

Schon lange nicht mehr – ja, man darf ruhig sagen: seit Alexander Pereira vor 21 Jahren in Zürich begonnen hat – war man auf eine Premiere derart gespannt wie am Sonntagabend: Leoš Janáceks Oper «Jenufa» leitete nämlich die neue Intendanz von Andreas Homoki (52) am Opernhaus Zürich ein. Um es vorwegzunehmen: Der Saisonstart ist geglückt.

Vor allem die erklärte Absicht, Opern auf Gegenwärtiges durchsichtig zu machen, wirkliches Leben darin zu spiegeln und damit für ein heutiges Publikum erfahrbar zu machen, ist in der Neuinszenierung der «Jenufa» durch den russischen Regisseur Dmitri Tcherniakov, der sowohl für Inszenierung wie für Bühnenbild verantwortlich zeichnet, mit Händen zu greifen.

Es geht um drei Frauen, deren Verhältnis untereinander gestört ist. Als der Vorhang sich hebt, stehen sie stumm da, in einem im Querschnitt gezeigten zweistöckigen Haus (das sich später noch um eine dritte Etage erweitern wird), unten Jenufa (Kristine Opolais) und ihre Grossmutter, die Alte Buryja (Hanna Schwarz), oben die Küsterin, Jenufas Stiefmutter (Michaela Martens). Alle drei wirken isoliert, ja eingezwängt wie in einem Gefängnis. Sie tragen moderne Kleider, wobei ausgerechnet die Alte Buryia sich top-chic gewandet (Kostüme: Elena Zaytseva). Die Räume sind weit und hell, mit sachlich-strengen Sitzpolstern möbliert. Natürlich ist weit und breit kein Mühlrad zu sehen.

In die Gegenwart verlegt

Tcherniakov hat die Geschichte vom mährisch-bäuerischen Milieu in eine bürgerliche Gesellschaft von heute verpflanzt. Das wird vollends deutlich, wenn im ersten Akt der Frauenheld Steva (Pavol Breslik) angetrunken mit dem ganzen Anhang im Schlepptau hereinstürmt, um ausgelassen die Befreiung vom Militärdienst zu feiern und eine regelrechte Party in Gang setzt. Abgerundet wird das Bild durch den kecken Auftritt des Jano, in dieser Inszenierung ein weiblicher Teenager, dem Jenufa das Lesen beigebracht hat, der aber mit Kopfhörer bewehrt ist.

Jedoch geht es dem Regisseur schon im ersten Akt um mehr als um eine oberflächliche Modernisierung. Was sich besonders deutlich bei der Charakterisierung der beiden ungleichen Stiefbrüder Steva und Laca zeigt. Beide sind in Jenufa verliebt, wobei anfänglich nur Steva Gehör findet, von dem Jenufa – was die andern noch nicht wissen – bereits ein Kind unter dem Herzen trägt.

Noch bevor die Küsterin dies weiss, ist sie gegen eine Heirat eingestellt, weil sie ahnt, dem Mädchen könnte ein ähnliches Schicksal mit einem untreuen und gewalttätigen Mann blühen wie ihr. Als eine Heirat mit Steva aussichtslos ist, schreitet sie zur Wahnsinnstat und tötet – jetzt vor allem um der Ehre willen – heimlich das Kind.

Die Tragödie endet dennoch versöhnlich, indem Jenufa sich zuletzt doch Laca zuwendet, der bereit ist, sie zu heiraten, und ihrer Ziehmutter verzeiht. Ganz freilich traut Tcherniakov diesem Happy End nicht. Jenufa stösst die Adoptivmutter ganz am Schluss doch noch zurück, während sie hinter Laca die Türe schliesst. Ein offenes Ende. Musikalisch steht die Aufführung auf hohem Niveau. Dass auch vokal unter der neuen Intendanz nicht unbedingt Abstriche gemacht werden müssen, zeigte sich deutlich.

So begeisterte der bekannteste Sänger, Christopher Ventris als Gast, mit seinem warmen, strahlkräftigen Tenor. Oder wie Kristine Opolais in der Titelrolle den Wandel von der rettungslos verliebten jungen Frau zur trauernden und verzeihenden Witwe in Schwarz durchlebte, stand für das grosse emotionale Gefälle ganz allgemein.

Erst forsch, dann im Gleichgewicht

Einen hohen Anteil hatten auch die Philharmonia Zürich und ihr Leiter, der neue Generalmusikdirektor Fabio Luisi. Eine Spur zu forsch trieb der Italiener zu Beginn das Orchester an, wohl mit der eher trockenen Akustik des Hauses noch nicht ganz vertraut. Spätestens ab dem zweiten Akt stellte sich das Gleichgewicht ein, und Janáceks meisterhafte Tonsprache fand einen Ausdruck von ungewöhnlicher Dichte und wachsender emotionaler Spannungskraft.