Ein Einstand nicht ganz nach Mass

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (25.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

Am Opernhaus Zürich begann mit «Jenufa» von Leos Janácek eine neue Intendanten-Ära

Alles neu macht nicht nur der Mai, sondern auch Andreas Homoki. Der Nachfolger Alexander Pereiras auf dem Zürcher Intendantenthron hatte viel Zeit, seine Direktion vor­zubereiten. Und siehe da, vieles wirkt neu im schmucken kleinen Opernhaus am See: das Fest zur Saisoneröffnung mit 8000 Besuchern, das Orchester, das jetzt «Philharmonia Zürich» heisst, das Drucksachen-Design, die Beschriftung und die Verpflegungsstätten im Haus. Ein Skandälchen gibts auch, denn der Tattoo-Träger und Bayreuth-Vertriebene Evgeny Nikitin soll im März 2013 den Amfortas in Wagners «Parsifal» singen. Geblieben ist der Vorsatz, Opern und Ballette in optimaler Qualität zu bieten, aber in geringerer Zahl als bisher.

Zum Auftakt – zehn Tage nach Leos Janáceks «Katja Kabanowa» am Theater Basel (BaZ vom 15. 9.) – zeigt das Opernhaus eine andere, die bekanntere Janácek-Oper: «Jenufa». Regisseur und Ausstatter in einer Person ist der aus Moskau stammende Dmitri Tcherniakov, ein Leuchtturm des Regietheaters in Russland. Und dieses unterscheidet sich kaum von dem Regietheater, das westlich vom Ural gängig ist. Die Handlung wird vom ländlichen in ein modernes städtisches Ambiente verpflanzt und scheint heute und nicht im vorletzten Jahrhundert zu spielen. Man trägt zeitgemässe Kleidung, die jungen Leute haben auch mal einen Kopfhörer aufgesetzt und wippen mit den Hüften wie in der Disco (Kostüme: Elena Zaytseva).

Dies alles macht noch keine Interpretation aus. Tcherniakov liefert sie, indem er die Handlung hinterfragt und verändert. Es leuchtet ihm nicht ein, dass die Stiefmutter der jungen Jenufa, die Küsterin, eine Kindsmörderin sein soll. Ihr Bekenntnis im dritten Akt ist für ihn ein moralisches und kein faktisches Schuldeingeständnis. Dass Jenufas uneheliches Kind zu Tode kommt, lässt sich freilich nicht weginszenieren. Aber in der Zürcher Inszenierung ist es die Grossmutter, die das Kinderbett ans offene Fenster rückt und damit den Tod durch Erfrieren herbeiführt. Dass trotzdem gesungen wird, man habe draus­sen «unter dem Eis ein erfrorenes Kind gefunden», ist ein Widerspruch, den man hinzunehmen hat.

Wie laut darf es sein?

Im Original heisst die Oper nicht «Jenufa», sondern «Ihre Ziehtochter», bezogen auf die Küsterin, die in Zürich denn auch den stärksten Eindruck hinterlässt. Michaela Martens füllt mit ­ihrem kräftigen Alt und ihrem glaubwürdigen Spiel den Raum mühelos und zeigt nicht zuletzt, dass dieser verhärmten Frau auch Züge warmer Menschlichkeit eigen sind. Hanna Schwarz gibt die Grossmutter als eitle, selbstbezogene Alte mit schneidender Stimme. Mit Pavol Bresnik als untreuem Liebhaber Steva und Christopher Ventris als biederem, emotional direktem Halbbruder Laca sind zwei stimmlich sehr unterschiedliche Tenöre mit von der Partie.

Für die Rolle der glücklosen jungen Mutter Jenufa hat das Opernhaus die 33-jährige Lettin Kristine ­Opolais verpflichtet. Eine gewinnende Erscheinung, eine rassige Frau, aber stimmlich eine Enttäuschung: Entweder sie schreit oder sie singt zu leise. Vor allem im ersten Akt kommt ihre Stimme nicht gegen die mächtige Sound­kulisse auf, die der neue Generalmusikdirektor Fabio Luisi im Orchestergraben aufbaut, und im zweiten klingt die Jenufa begleitende Oboe lauter als die Singstimme.

Hier fielen in der Premiere auch ­Koordinationsmängel und Wackler im Orchester auf, erst im Schlussakt schien man die Balance zwischen Lautstärke und Klangcharakteristik gefunden zu haben. So bleibt die Zürcher Saison­premiere auch musikalisch im Halb­gelungenen stecken