Gibt es eine Zukunft nach dem Albtraum?

Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (25.09.2012)

Jenufa, 23.09.2012, Zürich

Triumph mit Leos Janáceks «Jenufa» zum Start des Zürcher Intendanten Andreas Homoki

Erstaunlich: Obwohl doch Alexander Pereira nicht mehr da war, ging am Sonntagabend im Opernhaus Zürich der Vorhang hoch! Nicht nur das. Die erste Premiere unter der Direktion von Andreas Homoki wurde zu einem Triumph. Ohne «Buhs» beklatscht der Regisseur, gefeiert der neue Chefdirigent und bejubelt jeder Sänger – klug, klar und hart abgestuft in der Dosierung der «Bravos».

Kein Mozart-Hit, kein Wagner-Epos und kein Verdi-Schmachtfetzen, sondern Leos Janáceks 1904 uraufgeführtes Operndrama «Jenufa» sollte es sein. Hierzulande immer noch eher Geheimtipp als Repertoirestück wie in Wien. Nichtsdestotrotz eine Oper, bei der man wenig falsch machen kann: Die Handlung ist so brutal wie berührend, die Musik ungemein emotional. Alles ginge ganz einfach, wenn es nicht so anspruchsvoll wäre, glaubhafte Sängerdarsteller für den heiklen Realismus zu finden. Diese unheilige Liebe der «guten» Jenufa zum «bösen» Steva will erstmal gezeigt sein. Wie soll zudem jemand glaubhaft die Stiefmutter verkörpern, die Jenufas Baby ertränkt? Dann steht da noch diese Unfigur Laca, der Jenufa alles verzeiht und sie ewig lieben wird. Und nach dem erlebten Albtraum soll für diese Gezeichneten alles gut werden?

Keine Folklore

Der 42-jährige russische Regisseur Dmitri Tcherniakov, der bereits in Berlin und Paris Triumphe feierte, nahm sich erstmals der Oper an, verkündete, dass er dem Stück alle Folklore austreiben, dass er alle Verzierungen des Dramengebäudes entfernen und nur das Skelett übrig lassen werde. Um seine Aussage zu unterstreichen, baut er sich denn als sein eigener Bühnenbildner gleich selbst ein modernes Haus, mit giftgrünen Wänden. Geht der Vorhang auf, schleicht sich die Kälte, die in diesen Mauern herrscht, bis in die hintersten Parkettreihen. Eisig auch die Stimmung zwischen den drei dort lebenden, ja aneinandergeketteten Frauen: Jenufa, ihrer Stiefmutter und der alten Buryja. Unheimlich, wie schnell es Tcherniakov gelingt, dieses Trio zu charakterisieren. Nichts wirkt aufgesetzt.

Dieser Regisseur hört der Musik nach und setzt sie oben auf der Bühne in Szene – in kleinen Bewegungen, in vermeintlich unbedeutenden Nebenhandlungen, die aufs Ganze zielen: Ungeheuerlich die Präsenz der alten Buryja, ihre Hinterhältigkeit hinter der Maske. Nicht weniger gut gelingt es ihm, die gegenpoligen Halbbrüder Steva und Laca zu zeichnen. Jede Nebenrolle hat bei Tcherniakov ihr passendes Gewicht.

Intensiv und emotional

Gewiss, Kristine Opolais (Jenufa) beginnt etwas verhalten zu singen, aber in dieser Zurückhaltung liegt eine Trauer, die jeden Ton umflort, weist auf ihre späteren Worte: «Ich habe mir dieses Leben anders gedacht, jetzt scheint mir, stehe ich schon am Ende.» Und vielleicht waren ihre Kollegen zu Beginn des Abends einfach zu draufgängerisch. Auch dank dieser Zurückhaltung findet Opolais im letzten Akt zu einer ungeheuerlichen Intensität, zu intimsten Tönen: Die Ausbrüche kommen von alleine.

Michaele Martens (Küsterin) schafft es sogar, Opolais an Emotionalität zu übertreffen. Hanna Schwarz (Buryja) trumpft auf mit grosser Stimme und Kaltschnäuzigkeit im Spiel. Christopher Ventris ist als Laca nicht nur ungestüm, sondern zeigt eine naiv-reine Kraft. Pavol Bresliks (Steva) Tenor singt nicht nur geschmeidig und wunderschön, sondern er verkörpert seine Rolle zwischen reichem Sohn und Fussballerstar in der Daunenjacke perfekt.

All das ist prächtig, aber der Abend gehört weder dem Regisseur noch den Sängern, sondern dem neuen Chefdirigenten Fabio Luisi und seinem neu benannten Orchester Philharmonia Zürich.

Diese Musiker sind bestens vorbereitet, spielen «Jenufa» nicht nur, sondern erzählen das Drama – atmen diese Musik, gehen mit den Szenen mit – die Streicher streicheln wahrlich Jenufas Baby. Ein lyrischer Grundton durchzieht Luisis klanglich perfekt ausbalanciertes Dirigat, von der Dramatik gepackt wird dennoch jeder. Die Ausbrüche überlässt Luisi aber den Sängern, die auf seinem Klang-Teppich bestens agieren können.

Exemplarisch für Homokis Oper?

Der Eröffnungsabend zeigt, wie Homoki in Zürich in Zukunft Schauspiel- und Gesangskunst einhergehen lassen will: Alle Sänger verstehen sich bestens aufs Spielen, aber bei keinem muss das Ohr deswegen leiden, der Gesang steht im Mittelpunkt. Tcherniakovs Regie lenkt nämlich durch rein gar nichts von der Musik ab: Sie ist, wenn man so will, konventionell, aber eben unheimlich durchdacht und fertig geprobt. Man erkennt einmal mehr, wie falsch und unzutreffend die Regie-Begriffe «modern» oder «konservativ» auf der Opernbühne sind.

Die nächste Zürcher «Opern»-Inszenierung wird das Ineinandergehen von Gesang und Regie noch spezieller verdeutlichen, wird doch dann Christoph Marthaler seinen Händel-Abend «Sale» zeigen, bevor schliesslich Andreas Homoki höchstpersönlich den «Fliegenden Holländer» inszeniert. Spannende Opernmonate stehen den Zürchern bevor.